Die schöne Ballerina (German Edition)
nicht da bist, wo du hingehörst, habe ich keine ruhige Minute.« Sie wandte sich ab und hinkte durch den Flur zurück.
Lindsay blickte ihr einen Moment nach, bevor sie weiter die Treppe hinaufstieg.
Wo ich hingehöre, wiederholte Lindsay im Geiste Marys Worte, als sie ihr Zimmer betrat. Wohin gehöre ich denn wirklich?
Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Der Raum war groß und luftig mit zwei breiten, aneinander liegenden Fenstern. Auf dem Toilettentisch, der früher ihrer Großmutter gehört hatte, lagen Muscheln.
Lindsay hatte sie am nahe gelegenen Strand selbst gesammelt. In der Ecke stand ein Regal, vollgestopft mit Büchern aus der Kinderzeit. Den Orientteppich hatte sie nach Auflösung ihrer kleinen Wohnung aus New York mitgebracht. Der Schaukelstuhl stammte vom Flohmarkt und der Renoir-Druck aus einer Kunstgalerie in Manhattan.
Mein Zimmer, dachte sie, spiegelt die beiden Welten wider, in denen ich gelebt habe.
Über dem Bett hingen die blassrosa Spitzenschuhe, die sie bei ihrem ersten Solotanz getragen hatte. Während Lindsay näher trat, um die glatte Seide zu berühren, fiel ihr wieder ein, wie sie beim Annähen der Bänder vor Aufregung Magenschmerzen bekommen hatte. Sie erinnerte sich noch genau an die Begeisterung ihrer Mutter nach der Vorstellung und an die leicht gelangweilte Miene ihres Vaters.
Das liegt ein ganzes Leben zurück, dachte Lindsay und ließ die Hände herabsinken.
In Erinnerung an den Tanz, die Musik, den Zauber der Bewegung, an das Gefühl der Schwerelosigkeit lächelte Lindsay.
Doch sie hatte auch die raue Wirklichkeit nicht vergessen, die unweigerlich der Verzauberung folgte – die verkrampften Muskeln, die blutenden Füße.
Weil sie sich auf der Bühne bis an die Grenzen ihrer Kraft verausgabte, fühlte sie sich nach der Vorstellung meist zu Tode erschöpft. Aber Schmerzen und Erschöpfung waren bald vergessen. Was zurückblieb, war das Gefühl tiefer Befriedigung. Sie hatte sich nie wieder so glücklich gefühlt wie in jener Zeit. Heute wie damals war der Tanz ihr Leben.
Lindsay strich mit der Hand über die Augen und kehrte in die Gegenwart zurück. Im Augenblick hatte sie an andere Dinge zu denken.
Sie zog die Jacke aus und hielt sie stirnrunzelnd vor sich hin. Was soll ich nur damit machen? dachte sie. Weil sie sich über den unverschämten Fremden so geärgert hatte, beschloss sie, gar nichts zu tun. Sollte er sich sein Eigentum doch holen, wenn er es vermisste. Und vermissen würde er die Jacke, so viel war sicher, denn sie war aus sehr gutem Material gemacht und hatte bestimmt sehr viel gekostet.
Sie ging zum Schrank und hängte das Jackett auf einen Bügel. Dann zog sie sich aus, schlüpfte in einen warmen Morgenrock und schloss mit Nachdruck die Schranktüren.
Bevor sie ihr Zimmer verließ, nahm sie sich vor, sowohl die Jacke als auch deren Eigentümer zu vergessen.
2. K APITEL
Zwei Stunden später stand Lindsay am Eingang ihres Studios zum Empfang der Gäste bereit.
Sie trug eine weit geschnittene perlgraue Seidenbluse und einen schmalen Rock aus weicher Wolle im gleichen Farbton. Ihr Haar fiel glänzend und weich auf die Schultern. Sie wirkte ruhig, selbstsicher und sehr elegant.
Der größte Raum der Schule war heute Abend kaum wieder zu erkennen. Für den Auftritt der kleinen Tänzerinnen hatten Lindsay und ihre Helferinnen vor der Spiegelwand eine Bühne aufgebaut, deren Vorhang im Augenblick noch heruntergelassen war.
Vor der Bühne gruppierten sich im Halbkreis die Sitzplätze der Zuschauer. An der Wand, gleich neben dem Eingang, standen auf einem langen Tisch Erfrischungen wie Kaffee und Kuchen, hübsch dekorierte Appetithappen und Käsespieße bereit. Für die Kinder gab es Limonade und heiße Schokolade.
Je mehr sich der kleine Saal füllte, desto lauter wurde das Stimmengewirr, denn fast jeder Besucher entdeckte Freunde oder Bekannte unter den Anwesenden, und überall fanden sich Gruppen und Grüppchen in lebhaftem Gespräch zusammen.
Von der Stereoanlage hinter der Bühne klang leise klassische Musik herüber, die Lindsay sorgfältig ausgewählt hatte, um das Publikum auf die bevorstehende Aufführung einzustimmen.
Im Augenblick bemühte sie sich, jeden Besucher so freundlich und zuvorkommend zu begrüßen, als wäre gerade er ein besonders gern gesehener Gast. Sie unterhielt sich mit Vätern und Müttern, Großeltern und Geschwistern und beantwortete geduldig immer wieder die gleichen Fragen. Niemand
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