Ein kleines Stück vom Himmel nur
Sarah
Wie gut kennt man seine Familie eigentlich wirklich â wie gut kann man andere überhaupt kennen? So nahe wir einem anderen Menschen auch stehen mögen, es gibt immer tief verborgene Geheimnisse, von denen wir nichts wissen â Träume und Ãngste, Leidenschaften und Hass. Die Erinnerungen, die man nur hervorkramt und betrachtet, wenn man ganz allein ist; die düsteren Gedanken, die einen in schlaflosen Nächten plagen; die Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit, die wir niemals offen zugeben würden; die Momente, in denen uns vor der Zukunft graut. Wir sehen nur das, was die anderen uns zu sehen gestatten. Ihr Handeln und ihre Einstellungen beurteilen wir auf der Basis unserer eigenen Werte und Erfahrungen. Und auch wir selbst hüten Geheimnisse.
Ja, sogar ich habe genug eigene Geheimnisse, und dabei würde mich wohl kaum jemand als besonders verschwiegen bezeichnen. Als Kind hatte ich den Ruf, eine Quasselstrippe zu sein. »Die kleine Plaudertasche«, so nannte mein Vater mich zu meinem groÃen Ãrger â nach einer Figur aus den Comic-Heften, die ich mir jeden Sonntag beim Zeitschriftenhändler kaufte, zusammen mit einem Schokoladenriegel oder einer Tüte Bonbons. »Das dürft ihr auf keinen Fall jemandem erzählen«, sagte er immer, wenn meine Schwester Belinda und ich beim sonntäglichen Mittagessen Zeuge irgendeiner Diskussion zwischen ihm und meiner Mutter wurden, und dabei richtete er seinen Blick vor allem auf mich. Als ob ich irgendetwas davon weitererzählt hätte! Meistens ging es sowieso nur um irgendwelchen langweiligen Kram, zum Beispiel, ob sie sich eine Renovierung der Küche leisten könnten oder welcher der Nachbarn was im Wohltätigkeitsladen abgegeben hatte, in dem meine Mutter ehrenamtlich arbeitete. Ich verdrehte dann immer die Augen in Richtung Belinda, die sich natürlich wie immer mustergültig benahm, und schaute meinen Vater mit beleidigter Miene an. Ich würde wohl kaum mit meinen Freundinnen über die Finanzierung einer Küche reden und konnte mir auch nicht vorstellen, dass sie sich dafür interessieren würden, in welchem Zustand die Kleidung war, die Mrs. Waite, Mitglied in unserem Stadtrat, im Laden des Hospizes abgeben hatte â Pullover mit Kaffeeflecken und schlecht gewaschene Unterwäsche, wie meine Mutter sagte. Aber so war es nun mal â ich hatte den Ruf weg, zu viel zu reden und Geheimnisse nicht für mich behalten zu können.
Vielleicht wurde ich deshalb später so gut darin â¦
Meine Mutter dagegen konnte schon immer gut Geheimnisse bewahren. So gut, dass ich noch nicht mal ahnte, dass es überhaupt Geheimnisse gab, die gehütet werden mussten, dass es Menschen gab, die es zu schützen galt. Eine Fassade der Wohlanständigkeit, die aufrechterhalten werden musste. Und Schuld, die man einem anderen Menschen nur insgeheim zuschreibt. In der dunklen Welt zwischen Abend- und Morgendämmerung, wenn man schlaflos daliegt und alle Gedanken ungeheure AusmaÃe annehmen, die erst das Tageslicht wieder auf die richtige GröÃe zurechtstutzt. Die sprichwörtlichen Leichen im Keller.
Heutzutage gibt es wahrscheinlich weniger solcher Leichen im Keller. Eine Scheidung oder ein uneheliches Kind sind kein gesellschaftlicher Makel mehr. »Vom Karren gefallen«, nannte man das früher. Entzückend altmodisch, oder? Und dennoch ist es uns auch heute noch wichtig, dass die anderen uns in einem ganz bestimmten Licht sehen. Wir machen uns immer noch Sorgen darüber, ob andere die Wahrheit vertragen können â wie würde die Welt auch aussehen, wenn wir das nicht täten? Unangenehme Wahrheiten, die man gedankenlos oder aus eigennützigen Gründen äuÃert, können ein Leben zerstören, wenn sie von erwachsenen »Plappertaschen« ausgesprochen werden.
Doch die Kehrseite kann genauso gefährlich sein. Geheimnisse, die in bester Absicht gehütet werden, können auf äuÃerst heimtückische Weise Probleme verursachen, die noch jahrelang nachwirken. Eine Familiengeschichte kann ihre schleimigen Tentakel bis in die nächste und übernächste Generation ausstrecken. Offen ausgesprochen würden manche Dinge ihre bedrohliche Macht verlieren, statt aus Angst vor Entdeckung immer weiter zu gären. Hätte es in meiner Familie keine »Leichen im Keller« gegeben, wären ein paar Menschen wohl
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