Die schoene Frau Seidenman
römischer Katholik von alters her und polnischer Adliger. Ich glaube an den Herrn Jesus, an die Obhut der Allerheiligsten Jungfrau Maria, ich glaube an alles, was mir die Religion und mein geliebtes Polen gegeben haben. Und unterbrechen Sie mich nicht, Schwester, mich unterbricht man nicht; wenn ich geredet habe, hat mich nicht einmal Präsident Mościcki unterbrochen, obwohl es ihm nicht gefiel, bestimmte Dinge zu hören. Was soll das, Schwester?! Der Herrgott hat doch dieses Kind geleitet seit fünftausend Jahren, er hat es am Händchen aus der Stadt Ur ins Land Kanaan geleitet und später nach Ägypten und dann zurück ins Heilige Land und in die ganze weite Welt, nach Rom und Alexandria, nach Toledo und Mainz, bis hierher an die Weichsel. Gott hat doch diesem Kind geboten, über die ganze Erde von einem Ende ans andere zu gehen, damit es sich schließlich unter uns befände, in dieser Feuersbrunst, in diesem Ende aller Enden, wo es keine Wahl mehr gibt, keine Flucht außer in die Höhle unseres Katholizismus, unseres Polentums, denn hier gibt es eine Chance der Rettung für dieses Kind. Wie ist denn Gottes Wille, Schwester?! Durch so viele Jahrtausende hat Gott Joasia geleitet, damit andere Menschen Ihn kennenlernten, Ihn verstanden, damit der Erlöser kommen konnte, unser Herr Jesus, an den wir glauben und den wir am Heiligen Kreuz verehren, weil er für uns gestorben ist, für unsere Erlösung gestorben unter Pontius Pilatus. Durch so viele Jahrtausende hat Gott sie geleitet, damit sie sich jetzt, ganz am Ende verpuppen, damit sie sich selbst widersprechen sollte, weil ein Adolf Hitler es will? Bitte sehr, Schwester, taufen Sie sie, lehren Sie sie die Gebete und den Katechismus, nennen Sie sie Joasia Bogucka oder Joasia Kowalczyk, selbstverständlich erledige ich das, in zwei, höchstens drei Tagen ist eine unanfechtbare Taufurkunde fertig. Unanfechtbar, weil von einem verstorbenen katholischen Mädchen. Alles ist folglich in bester Ordnung. Bitte sehr. Arbeiten Sie an diesem Kind, Schwester. Auf christliche, auf katholische, auch auf polnische Weise! Ich denke, so gehört es sich. Weil es für ihre Zukunft, für ihr Überleben nötig ist. Aber ich sage Ihnen, Schwester, was ich denke. Wir hier – das ist das eine. Und der Herrgott – das ist etwas anderes. Und der Herrgott wird es nicht zulassen! Daran glaube ich fest, Schwester, daß Er ein solches Ende nicht zulassen wird. Aus ihr wird eine jüdische Frau, eines Tages wird in ihr die jüdische Frau erwachen, sie wird den fremden Staub abschütteln, um dorthin zurückzukehren, wo sie herkommt. Und ihr Bauch wird fruchtbar sein und neue Makkabäer auf die Welt bringen. Denn Gott wird sein Volk nicht vertilgen! Das sage ich Ihnen, Schwester. Und jetzt nehmen Sie sie, mag sie an unseren Herrn Jesus Christus glauben, denn das ist, wie Sie wissen, Schwester, das Brot des Lebens. Doch einst wird in ihr die Judith erwachen, das Schwert ziehen und Holofernes den Kopf abschlagen.«
»Weinen Sie nicht, Herr Richter«, sagte Schwester Weronika.
Entsprechend dem, was er gesagt, erwachte in Joasia die jüdische Frau, aber nicht so, wie er sie gewünscht hatte. Vielleicht hatte der Richter Gottes Absichten nicht bis ins Letzte verstanden, vielleicht war die Ursache auch ganz trivial. Joasia erlebte das Kriegsende als Marysia Wiewióra, als katholisches Mädchen und Waisenkind aus der Gegend von Sanok, dessen Eltern, arme Landwirte, gestorben waren. Sie lebte nach dem Krieg wie die übergroße Mehrheit ihrer Altersgenossinnen, lernte fleißig und dachte daran, Zahnärztin zu werden, weil sie flinke Hände hatte und ihr Verhalten lindernd auf die Menschen wirkte. Doch als sie zwanzig Jahre alt geworden war, vernahm sie eine Stimme, die sie rief. Und folgte ihr in Demut und Gehorsam. Sie wanderte nach Israel aus, wo sie nicht mehr Marysia Wiewióra hieß, sondern Miriam Wewer. Und sie wurde nicht Zahnärztin. Einige Zeit nach ihrem Eintreffen in der neuen Heimat, wo das auserwählte Volk seinen Staat errichtete, um nie mehr Verfolgungen und Demütigungen zu erleiden, erblickte sie seltsame Juden, die vielleicht aus ihren Träumen und Ahnungen stammten, vielleicht aber aus ganz irdischen Gründen aufgetaucht waren so wie vor ihnen andere, ihnen ähnliche. Diese Juden trugen Feldmützen, Tarnjacken und hohe Stiefel. Fast regelmäßig hielten sie eine Maschinenpistole schußbereit unter dem Arm. Sie hatten braun gebrannte Gesichter und bedienten sich der knappen Sprache
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