Die Schöpfungsmaschine
Situation klar. Keine Seite hatte jetzt noch die Möglichkeit, einen strategischen Angriff von den Satelliten aus zu führen, da beide ihre SBS-Systeme restlos eingebüßt hatten. Da jedoch der Osten den Verlust seines Systems schon bei dem ersten Schlag hinnehmen musste, hatte er versucht, das Gleichgewicht wiederherzustellen, indem er seine Anti-Satelliten-Raketen gegen das SBS-System des Westens schickte, das zu diesem Zeitpunkt ja noch intakt war. Dadurch sah sich der Westen gezwungen, seine Abfang-Raketen ins Gefecht zu führen.
Das Ergebnis war nun, dass der Osten seine Antiraketen-Raketen noch in den Stellungen hatte, denn er hatte ja bisher keinen Grund gehabt, diese ebenfalls einzusetzen. Der Westen jedoch hatte keine Antiraketen-Raketen mehr – zumindest würde es einige Zeit dauern, bis Nachschub in die Verteidigungsstellungen geschafft werden konnte. Nach und nach erkannten die versammelten Stabsoffiziere die Tragweite der Situation. Carlohm sagte besorgt zu Sherman: „Solange wir unsere Verteidigung neu organisieren, sind wir einem gegnerischen Angriff schutzlos preisgegeben. Unsere Raketenabwehrsysteme sind erschöpft, und zur Zeit haben wir nichts, womit wir einen klassischen Angriff durch Atom-U-Boote und Interkontinentalraketen abwehren könnten. Leider ist es so, dass die andere Seite noch über ihre Abfangraketen verfügt – deshalb hätte ein Präventivschlag unsererseits wenig Aussicht auf Erfolg. Die Burschen da drüben sind nicht dumm. Sicher haben auch sie die Lage inzwischen erkannt. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich jetzt zuschlagen, und zwar mit aller Kraft.“
Es erwies sich bald, dass seine Sorge berechtigt war. Auf allen Seiten des Befehlsstandes liefen die Meldungen ein.
„Salve von sechzehn Raketen von unterhalb der Wasseroberfläche abgefeuert. Position dreihundert Meilen südlich von Neu-Schottland. Flugrichtung ansteigend nach Westen.“
„Von vier Positionen im östlichen Pazifik werden Starts gemeldet. Erste Zielberechnungen deuten auf das Territorium der USA hin.“
„Massenstart in Nordsibirien, Flugrichtung nördlich über die Polkappe. Auch in Zentralsibirien Starts, Flugrichtung hier Mitteleuropa.“
„Aus dem Landesinneren von Algerien und Tunesien steigen Raketen auf. Sie nehmen Kurs nach Norden, Richtung Mittelmeer.“
Ein wildes Muster roter Linien erschien auf dem Hauptbildschirm, der den Erdglobus zeigte. Die angstvolle Erwartung der Beobachter näherte sich der Panik. Die ruhige Sachlichkeit, die Sherman während der ganzen Zeit bewahrt hatte, brach zusammen. Fassungslos starrte er auf die dünnen roten Linien, die sich ständig verlängerten, und sein Verstand weigerte sich, den Befehl zu formulieren, der jetzt von ihm erwartet wurde. Die Linien beschrieben unregelmäßige Bögen, die sich den Vereinigten Staaten von drei Seiten näherten. Europa bedrohten sie von Süden und Osten und Australien von Süden.
„Vorausberechnungen der Flugbahnen ergeben, dass die erste Rakete in vier Komma fünf Minuten ihr Ziel erreichen wird“, verkündete eine Stimme. „Startpunkt: westlicher Atlantik. Zielpunkt: das Gebiet von New York. Einschläge in Spanien voraussichtlich in vier Komma neun Minuten, Britische Inseln: fünf Komma drei Minuten. Weitere Daten kommen eben herein.“
Carlohm und Foreshaw sahen den Präsidenten erwartungsvoll an, aber Sherman stand unbeweglich da. Seine Augen starrten glasig, und sein Kopf schwankte leicht von seiner Seite zur anderen.
„Das ist der totale Vernichtungsangriff“, sagte Carlohm nach ein paar Sekunden. „Sie müssen jetzt den Vergeltungsschlag auslösen.“
Sherman ließ sich auf einen Stuhl fallen. Die Farbe war aus seinem Gesicht gewichen; Schweißtropfen glitzerten auf seiner Stirn.
„Was hätten wir denn jetzt noch davon?“ flüsterte er mit erstickter Stimme. „Es würde doch nichts mehr ändern. Reine, sinnlose Massenvernichtung … völlig sinnlos …“
„Sie müssen es tun“, sagte Foreshaw grimmig. „Diese Hundesöhne sollen wenigstens einen Preis zahlen.“
Sherman bedeckte das Gesicht mit den Händen. Er schüttelte stumm den Kopf und war zu keiner Äußerung mehr fähig. Plötzlich trat Reyes vor und erklärte mit fester, entschlossener Stimme:
„Der Präsident ist zur Zeit nicht in der Lage, seine Pflichten auszuführen. Daher übernehme ich hiermit das Präsidentenamt. Ich trage die volle Verantwortung für meine Entscheidungen. General Carlohm, befehlen Sie, dass der
Weitere Kostenlose Bücher