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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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funktioniert?«, fragte Julius.
    »Bis jetzt, bis zu dieser Gruppentherapie.«
    »Aber Sie sind jetzt viel angenehmer, Philip«, meinte Bonnie. »Sie sind viel kontaktfähiger, viel zugänglicher. Ehrlich gesagt  – so wie Sie waren, als Sie hier anfingen . . . ich meine, ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich oder sonst jemand Sie als Berater konsultiert.«
    »Leider«, entgegnete Philip, »bedeutet ›kontaktfähig‹ hier, dass ich jedermanns Unglück teilen muss. Das steigert mein Elend nur. Sagen Sie mir, wie kann diese ›Kontaktfähigkeit‹ nützlich sein? Als ich noch ›am Leben teilnahm‹, ging es mir
schlecht. Seit zwölf Jahren bin ich ein Gast des Lebens, ein Beobachter des vorüberziehenden Schauspiels, und« – Philip hob und senkte zur Betonung seine Hände – »ich lebe in Frieden. Und jetzt, da mich die Gruppe gezwungen hat, wieder ›am Leben teilzunehmen‹, leide ich auch wieder. Ich habe ja von meiner aufgewühlten Stimmung nach dem Gruppentreffen vor ein paar Wochen berichtet. Meinen früheren Gleichmut habe ich immer noch nicht zurückgewonnen.«
    »Ich glaube, Ihre Argumentation hat einen Fehler, Philip«, meinte Stuart, »und der hat mit Ihrer Aussage zu tun, Sie ›hätten am Leben teilgenommen‹.«
    Bonnie sprang ein. »Ich wollte eben dasselbe sagen. Ich glaube nicht, dass Sie jemals am Leben teilgenommen haben, nicht richtig jedenfalls. Sie haben nie von einer echten Liebesbeziehung gesprochen. Von Männerfreundschaften habe ich ebenso wenig gehört, und was Frauen angeht, sagen Sie ja selbst, dass Sie ein Raubtier waren.«
    »Stimmt das, Philip?«, fragte Gill. »Sie haben nie richtige Beziehungen gehabt?«
    Philip schüttelte den Kopf. »Alle, mit denen ich zu tun hatte, haben mir Schmerz verursacht.«
    »Ihre Eltern?«, fragte Stuart.
    »Mein Vater war sehr distanziert und chronisch depressiv, glaube ich. Er nahm sich das Leben, als ich dreizehn war. Meine Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben, aber wir waren uns seit zwanzig Jahren fremd. Ich nahm nicht an ihrer Beisetzung teil.«
    »Geschwister?«, fragte Tony.
    Philip schüttelte den Kopf. »Ich bin Einzelkind.«
    »Wissen Sie, was mir da einfällt?«, warf Tony ein. »Als ich klein war, wollte ich das, was meine Mutter gekocht hatte, meistens nicht essen. Ich sagte immer: ›Das mag ich nicht‹, und sie konterte: ›Woher willst du wissen, dass du es nicht magst, wenn du es noch nie probiert hast?‹ Ihre Einstellung zum Leben erinnert mich daran.«

    »Vieles«, erwiderte Philip, »ist durch reine Verstandeskraft zu erfassen. Die gesamte Geometrie zum Beispiel. Oder man ist einer schmerzlichen Erfahrung teilweise ausgesetzt und schließt von daher auf das Ganze. Und man sieht sich um, liest, beobachtet andere.«
    »Aber Ihr Spezi Schopenhauer«, meinte Tony, »haben Sie nicht gesagt, dass der viel Wind darum machte, dass man auf seinen eigenen Körper hören muss, sich auf seine – wie hieß das noch? – unvermittelte Erfahrung verlassen soll?«
    »Unmittelbare Erfahrung.«
    »Genau, unmittelbare Erfahrung. Finden Sie denn nicht, dass Sie eine wichtige Entscheidung treffen, die auf zweitklassigen Informationen, Informationen aus zweiter Hand basiert  – ich meine, welchen, die nicht Ihre eigene unmittelbare Erfahrung sind?«
    »Das ist ein gutes Argument, Tony, aber nach der Sitzung mit der ›Beichtstunde‹ reicht es mir mit der unmittelbaren Erfahrung.«
    »Sie kommen schon wieder auf diese Sitzung zurück, Philip. Sie scheint ein Wendepunkt gewesen zu sein«, sagte Julius. »Vielleicht wäre es an der Zeit zu beschreiben, was Ihnen an dem Tag widerfahren ist.«
    Wie zuvor zögerte Philip, holte tief Luft und schickte sich dann an, systematisch von seinen Erlebnissen nach jenem Treffen zu berichten. Während er von seiner Erregung sprach und der Unfähigkeit, seine Beruhigungstechniken wirksam einzusetzen, wurde er sichtlich immer aufgewühlter. Als er schilderte, wie sein geistiges Strandgut nicht davontrieb, sondern sich in seinem Kopf festsetzte, glitzerten Schweißperlen auf seiner Stirn. Und dann, als er von dem Wiederauftauchen seines triebhaften, räuberischen Selbst sprach, bildeten sich große nasse Flecken in den Achselhöhlen seines hellroten Hemdes, und Schweißrinnsale troffen ihm von Nase und Kinn und den Nacken hinunter. Im Raum war es sehr still; jeder war wie versteinert von Philips Verströmen von Worten und Flüssigkeit.

    Er machte eine Pause, holte wieder tief Luft und fuhr fort:

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