Die Schopenhauer-Kur
dass sie unter anderem Epiktet zitierte, um mir eine Falle zu stellen und mich durcheinanderzubringen. Das war offensichtlich. Aber ich hatte nicht vergessen, was Julius zu mir sagte, als ich ihm die Fabel mitbrachte – dass er sich über die Mühe und das Interesse freute, die dahintersteckten.«
»Also«, sagte Tony, »ich spiele jetzt mal Julius. Ich habe Sie so verstanden: Sie haben etwas Bestimmtes beabsichtigt, aber Ihre Worte haben etwas vollkommen anderes bewirkt.«
Philip schaute fragend drein.
»Ich meine«, sagte Tony, »Sie haben behauptet, dass Sie Pam ganz sicher nicht beleidigen wollten. Trotzdem haben Sie genau das getan, oder?«
Philip nickte zustimmend, wenn auch widerwillig.
»Also müssen Sie«, fuhr Tony im triumphierenden Ton eines Anwalts beim Kreuzverhör fort, »Ihre Absichten und Ihr Verhalten miteinander in Einklang bringen. Sie müssen Sie deckungsgleich machen – ist das das richtige Wort?« Tony warf Julius einen Blick zu, der daraufhin nickte. »Und deshalb brauchen Sie eine Therapie. Deckungsgleichheit ist nämlich der Sinn einer Therapie.«
»Gut argumentiert«, sagte Philip. »Ich habe kein Gegenargument. Sie haben Recht. Deshalb brauche ich eine Therapie.«
»Was?« Tony traute seinen Ohren nicht. Er schaute Julius an, der ihm ein »Braver-Junge«-Nicken schenkte.
»Fangt mich auf, ich falle gleich in Ohnmacht«, sagte Rebecca und sackte in ihrem Sessel in sich zusammen.
»Ich auch«, kam das Echo von Bonnie und Gill, der sich ebenfalls zurücksinken ließ.
Philip sah, wie die halbe Gruppe in gespielter Bewusstlosigkeit dasaß, und grinste zum ersten Mal, seit er ihr beigetreten war.
Dann kehrte er zum Thema seines persönlichen Beratungsansatzes zurück. »Rebeccas Meinung über Schopenhauers Grabsteinkommentar impliziert, dass mein Ansatz oder jeder Ansatz, der auf seinem Standpunkt basiert, falsch ist. Falls Sie es vergessen haben sollten, ich habe mich Jahre lang mit einem ernsthaften Leiden gequält, das Julius nicht kurieren konnte, und wurde erst dadurch geheilt, dass ich Schopenhauers Beispiel folgte.«
Julius unterstützte Philip sofort. »Ich leugne nicht, dass Sie gute Arbeit geleistet haben. Die meisten Therapeuten würden sagen, dass es nicht möglich ist, eine schwere Sexsucht ganz allein zu überwinden. Die Behandlung ist heute langfristig angelegt – auf viele Jahre – und findet im Rahmen eines strukturierten Entzugsprogramms statt, das Einzeltherapie umfasst sowie Gruppen, die sich mehrmals pro Woche treffen, oft nach Zwölf-Schritte-Prinzipien. Aber damals existierte ein solches Entzugsprogramm noch nicht, und offen gesagt bezweifle ich, dass Sie es für sich passend gefunden hätten.«
»Also«, fuhr Julius fort, »ich möchte noch mal festhalten, dass Ihre Leistung beachtlich ist: Die Methoden, mit denen Sie Ihre Triebe kontrollierten, haben funktioniert – besser als alles, was ich zu bieten hatte, obwohl ich mein Bestes gegeben habe.«
»Das habe ich nie bezweifelt«, sagte Philip.
»Aber hier eine Frage, Philip: Kann es sein, dass Ihre Methoden inzwischen obsolet sind?«
»Ob . . . was?«, wollte Tony wissen.
»Obsolet«, flüsterte Philip, der neben Tony saß, »ein anderes Wort für veraltet, überholt.«
Tony bedankte sich mit einem Nicken.
»Neulich kam mir«, fuhr Julius fort, »ein Bild in den Sinn, als ich überlegte, wie ich es am besten anbringe. Stellen Sie sich
eine antike Stadt vor, um die man einen hohen Wall errichtet hat, um sie vor den wilden Fluten eines nahen Flusses zu schützen. Jahrhunderte später ist der Fluss längst ausgetrocknet, doch die Stadt investiert nach wie vor beträchtliche Mittel in den Erhalt dieser Mauer.«
»Sie meinen«, sagte Tony, »wie jemand, der weiter eine Lösung benutzt, obwohl das Problem nicht mehr besteht – als ob man noch ein Pflaster trägt, nachdem die Wunde längst verheilt ist.«
»Genau«, sagte Julius. »Vielleicht ist das mit dem Pflaster eine bessere Metapher – bringt es eher auf den Punkt.«
»Ich bin nicht der Meinung«, wandte Philip sich an Julius und Tony, »dass meine Wunde verheilt oder ein Eindämmen nicht mehr nötig ist. Zum Beweis müssen Sie sich nur mein extremes Unbehagen hier in der Gruppe anschauen.«
»Das ist kein guter Maßstab«, sagte Julius. »Sie haben wenig Erfahrung mit Nähe und damit, Gefühle direkt zu äußern, Feedback zu erhalten und sich zu offenbaren. Das alles ist neu für Sie; Sie leben seit Jahren sehr zurückgezogen, und
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