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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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Verlegenheit gebracht habe, indem ich mit der Beichte rausgeplatzt bin. Du bist ein lieber Mensch, Tony, und mir liegt an dir. Neulich habe ich gehört, wie meine jüngeren Studenten diesen neuen Ausdruck benutzten, Fickkumpels – vielleicht waren wir das ja auch, und es hat Spaß gemacht, aber im Moment oder in Zukunft ist es eine schlechte Idee – die Gruppe hat Vorrang. Konzentrieren wir uns auf unsere Probleme.«
    »Soll mir recht sein. Ich bin dabei.«
    »Also, Tony«, sagte Julius, »jetzt sind Sie befreit – Sie können über alles sprechen, was Sie in letzter Zeit für sich behalten haben, über sich, Pam oder die Gruppe.«
     
    In den verbleibenden Sitzungen nahm Tony seine treibende Rolle in der Gruppe wieder ein. Er drängte Pam, sich mit ihren Gefühlen für Philip auseinanderzusetzen. Als sich der potenzielle Durchbruch, der auf ihr Lob Philips als Lehrer hätte folgen können, nicht einstellte, spornte er sie an, gründlicher zu erforschen, warum ihre Wut auf Philip nach wie vor glühte, während sie anderen in der Gruppe vergeben konnte.
    »Ich habe ja schon gesagt«, antwortete Pam, »dass es natürlich viel leichter ist, Menschen wie Rebecca oder Stuart oder
Gill zu verzeihen, weil ich kein persönliches Opfer ihrer Fehltritte war. Mein Leben hat sich durch ihr Verhalten nicht verändert. Aber das ist noch nicht alles. Ich kann anderen hier verzeihen, weil sie Reue gezeigt, und vor allem, weil sie sich geändert haben.
    Ich habe mich auch geändert. Ich glaube inzwischen, dass es möglich ist, dem Menschen zu vergeben, aber nicht seine Tat. Ich glaube, ich wäre fähig, einem veränderten Philip zu verzeihen. Aber er hat sich nicht verändert. Sie fragen, warum ich Julius verzeihen kann – schauen Sie ihn doch an: Er hört nie auf zu geben. Und, wie Ihnen sicherlich allen klar ist, macht er uns ein letztes Geschenk der Liebe: Er lehrt uns, wie man stirbt. Ich kannte den alten Philip, und ich kann bezeugen, dass er derselbe Mann ist, den Sie hier sitzen sehen. Wenn man überhaupt von Veränderung sprechen kann, dann ist er noch kälter und arroganter.«
    Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Und eine Bitte um Entschuldigung könnte nicht schaden.«
    »Philip nicht verändert?«, sagte Tony. »Ich glaube, du siehst nur, was du sehen willst. All die Frauen, auf die er Jagd gemacht hat – das hat sich verändert.« Er wandte sich an Philip. »Sie haben es zwar nicht ausdrücklich erwähnt, aber das ist doch jetzt anders. Oder?«
    Philip nickte. »Mein Leben hat sich sehr verändert – ich war seit zwölf Jahren nicht mehr mit einer Frau zusammen.«
    »Und das nennst du keine Veränderung?«, fragte Tony Pam.
    »Oder Besserung?«, steuerte Gill bei.
    Ehe Pam antworten konnte, warf Philip ein: »Besserung? Nein, das ist falsch. Der Gedanke an Besserung spielte keine Rolle. Lassen Sie mich eins klarstellen: Ich habe mein früheres Leben oder, wie es hier formuliert wurde, meine Sexsucht nicht auf Grund einer moralischen Entscheidung aufgegeben. Ich habe mich geändert, weil mein Leben eine Qual war – unerträglich.«
    »Wie kam es zum entscheidenden Schritt? Gab es einen
Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte?«, fragte Julius.
    Philip zögerte und erwog, ob er Julius antworten sollte. Dann atmete er tief ein und begann, wobei er mechanisch sprach, als wäre er aufgezogen: »Nach einer langen Orgie mit einer außerordentlich schönen Frau fuhr ich nachts nach Hause und überlegte, dass ich in dem Moment, wenn überhaupt je in meinem Leben, alles bekommen hatte, was ich mir wünschte, und zwar im Übermaß. Der Geruch nach geschlechtlichen Flüssigkeiten im Auto war überwältigend. Alles stank danach, die Luft, meine Hände, mein Haar, meine Kleidung, mein Atem. Es war, als hätte ich gerade in einer Wanne voll weiblichem Moschus gebadet. Und dann, am Horizont meiner Vorstellung, entdeckte ich es – das Verlangen sammelte seine Kräfte und war bereit, sich erneut aufzubäumen. Das war der Augenblick. Übelkeit stieg in mir auf, und ich begann zu erbrechen. Und im selben Moment«, Philip wandte sich Julius zu, »kam mir Ihr Kommentar über meine Grabinschrift in den Sinn. Und ich erkannte, dass Schopenhauer Recht hatte: Das Leben ist eine ewige Qual, Verlangen unstillbar. Das Rad dieser Folter würde sich ewig drehen; ich musste eine Möglichkeit finden, davon abzuspringen, und beschloss daher, mein Leben an seinem Vorbild auszurichten.«
    »Und das hat bei Ihnen all die Jahre

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