Entflammt
1
Letzte Nacht ist meine ganze Welt zusammengebrochen. Und jetzt habe ich Panik.
Der eine oder andere kennt das vielleicht: Man lebt sein Leben, ganz normal, und dann passiert plötzlich etwas, das einen total erschüttert. Man sieht oder hört etwas und auf einmal zerplatzt alles, was man ist, alles, was man tut, in tausend scharfkantige Splitter bitterer Erkenntnis.
Mir ist es letzte Nacht so ergangen.
Ich war in London. Mit Freunden, wie gewöhnlich. Wir waren ausgegangen, wie sonst auch.
»Nein, nein, biegen Sie hier ab!« Boz beugte sich vor und pikste den Taxifahrer in die Schulter. »Hier!«
Der Fahrer, dessen breites Kreuz sein Sweatshirt und die karierte Weste zu sprengen drohte, drehte sich um und bedachte Boz mit einem Blick, der einen normalen Menschen dazu gebracht hätte, sich zurückzulehnen und still zu sein. Aber Boz ist kein normaler Mensch: Er sieht besser aus als die meisten anderen Leute und ist frecher, lustiger und bei Gott auch dämlicher als die meisten anderen. Wir kamen gerade von einem Tanzclub, in dem es plötzlich zu einer Messerstecherei gekommen war. Diese beiden irren Tussen hatten sich gegenseitig die Haare ausgerissen und gekeift wie Fischweiber und dann hatte eine von ihnen ein Messer gezogen. Meine Truppe wollte bleiben und zusehen - die stehen auf so was -, aber ich hatte schon genug Kämpfe in meinem Leben gesehen. Also hatte ich die anderen mitgezogen, wir waren in die Nacht hinausgestolpert und hatten das Glück, ein Taxi zu erwischen, bevor die Kälte uns zu sehr ausnüchtern konnte.
»Hier! Genau in der Mitte des Blocks, guter Mann!«, sagte Boz und handelte sich damit einen so mörderischen Blick ein, dass ich wieder einmal heilfroh war, dass das gute alte England so strenge Waffengesetze hatte.
»Guter Mann?« Cicely kicherte neben mir. Wir hatten uns zu sechst auf die Sitze des großen schwarzen Taxis gequetscht. Wir hätten noch mehr Leute mitnehmen können, aber die Erfahrung hatte uns gelehrt, dass nicht mehr als sechs dürre Unsterbliche in ein Londoner Taxi passten, und das auch nur, solange keiner kotzte.
»Ja, James«, rief Cicely frech. »Halten Sie hier,«
Der Fahrer rammte den Fuß auf die Bremse und wir schossen alle nach vorn. Boz und Katy knallten mit dem Kopf gegen die Trennscheibe. Stratton, Innocencio und ich flogen von unserem Sitz und landeten in einem wirren, kichernden Haufen auf dem dreckigen Boden des Taxis.
»He!«, beschwerte sich Boz und rieb sich die Stirn.
Innocencio fand mich unter dem Gewirr von Armen und Beinen. »Alles in Ordnung, Nas?«
Ich nickte, immer noch lachend.
»Raus aus meinem Wagen! «, bellte der Taxifahrer. Er hievte sich vom Fahrersitz, ging um den Wagen herum und riss unsere Tür auf. Ich lehnte mit dem Rücken an der Tür, fiel natürlich sofort hinaus und schlug mit dem Kopf auf den Bordstein.
»Au! Au!« Der Bordstein war nass, es hatte geregnet. Der Schmerz, die Kälte und die Nässe drangen allerdings kaum in mein Bewusstsein. Von dem Messerkampf mal abgesehen hatten wir an diesem Abend schon so ausgiebig gefeiert, dass ich das Gefühl hatte, in einem warmen Kokon verschwommenenWohlbefindens zu stecken.
»Raus!«, verlangte der Fahrer noch einmal, packte meine Schulter und zerrte mich aus dem Weg. Er ließ mich auf den Bürgersteig fallen und griff nach Incy.
Ich runzelte die Stirn, rieb mir die Schultern und setzte mich auf. Wir waren noch einen Block vom Dungeon entfernt, der nächsten schäbigen Bar, in der wir häufig abhingen. Der Weg dorthin war dunkel und verlassen und leere Grundstücke wechselten sich mit ausgebrannten Crack-Häusern ab, was die Straße aussehen ließ, als hätte sie Zahnlücken. »Schon gut, Hände weg!«, sagte Innocencio und landete neben mir auf dem Bürgersteig. Seine Miene war eisig und er sah wacher aus, als ich gedacht hätte.
»Blödes Pack!«, schimpfte der Fahrer. »Solche wie euch will ich nicht in meinem Taxi haben! Reiche Gören, die sich einbilden, was Besseres zu sein!« Er beugte sich ins Taxi und packte Katy am Kragen, während Boz schon freiwillig ausstieg. »Oh - ich muss mich übergeben«, murmelte Katy, die noch halb im Taxi steckte. Boz sprang gerade rechtzeitig aus dem Weg und schon verabschiedete sich Katys Magen von einer Abendration Jameson Whisky - direkt auf die Schuhe des Taxifahrers.
»Verfluchter Dreck! «, brüllte der Fahrer und schüttelte angewidert seine Füße.
Boz und ich kicherten - wir konnten nicht anders.
Weitere Kostenlose Bücher