Die Schopenhauer-Kur
ich konfrontiere Sie mit dieser höchst dynamischen Gruppe. Natürlich fühlen Sie sich da unbehaglich. Aber was ich eigentlich meine, ist der sexuelle Zwang – und der ist anscheinend weg. Sie sind älter, haben eine Menge durchgemacht und sind vielleicht in das Land der Keimdrüsenruhe eingetreten. Schöner Ort, gutes, sonniges Klima, ich lebe dort seit vielen Jahren sehr angenehm.«
»Ich würde sagen«, fügte Tony hinzu, »dass Schopenhauer Sie zwar geheilt hat, Sie aber jetzt von der Schopenhauer-Kur loskommen müssen.«
Philip machte den Mund auf, um zu antworten, schloss ihn jedoch wieder und sann über Tonys Vorschlag nach.
»Noch etwas«, ergänzte Julius, »wenn Sie an Ihren Stress in der Gruppe denken, vergessen Sie nicht die strapaziösen Schuldgefühle, die Sie als Folge einer zufälligen Begegnung mit einer Person aus Ihrer Vergangenheit hier erlebt haben.«
»Über Schuldgefühle habe ich von Philip noch nichts gehört«, sagte Pam.
Philip reagierte sofort, Pam zugewandt. »Wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß über die Jahre, in denen Sie gelitten haben, hätte ich mich nie so verhalten. Wie ich schon sagte, Sie hatten das Pech, mir über den Weg zu laufen. Der Mensch, der ich damals war, hat nicht über Konsequenzen nachgedacht. Er handelte wie ein Roboter – dieser Mensch war ein Roboter.«
Pam nickte und begegnete seinem Blick. Philip hielt ihm einen Moment lang stand, dann wandte er sich wieder Julius zu. »Ihr Argument mit den zwischenmenschlichen Spannungen in dieser Gruppe ist sicher richtig, aber ich bestehe darauf, dass das nur ein Teilaspekt ist. Und in diesem Punkt sind wir grundsätzlich unterschiedlicher Meinung. Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass es Stress in Beziehungen mit anderen gibt. Und womöglich auch Lohnendes – das gestehe ich Ihnen zu, obwohl ich selbst es nie erfahren habe. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass die menschliche Existenz im Kern eine Tragödie des Leidens ist. Gestatten Sie mir, nur zwei Minuten lang Schopenhauer zu zitieren.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, begann Philip, an die Decke starrend, vorzutragen:
»Zuvörderst: keiner ist glücklich, sondern strebt sein Leben lang nach einem vermeintlichen Glücke, welches er selten erreicht und auch dann nur, um enttäuscht zu werden: in der Regel aber läuft zuletzt jeder schiffbrüchig und entmastet in den Hafen ein. Dann aber ist es auch einerlei, ob er glücklich oder unglücklich gewesen, in einem Leben, welches bloß aus dauerloser Gegenwart bestanden hat und jetzt zu Ende ist.« Ref 145
Nach langem Schweigen sagte Rebecca: »Dabei läuft es mir kalt den Rücken herunter.«
»Ich weiß, was Sie meinen«, stimmte Bonnie zu.
»Ich weiß, dass ich wie eine verbissene Englisch-Professorin klinge«, sprach Pam die ganze Gruppe an, »aber ich bitte Sie, sich nicht von der Rhetorik in die Irre führen zu lassen. Dieses Zitat hat nichts Substanzielleres zu bieten als das, was Philip schon die ganze Zeit gesagt hat; es hört sich nur überzeugender an. Schopenhauer war ein brillanter Stilist und schrieb von allen Philosophen die beste Prosa. Bis auf Nietzsche natürlich – keiner schrieb besser als Nietzsche.«
»Philip, ich möchte Ihre Bemerkung über unsere grundsätzlichen Unterschiede aufgreifen«, sagte Julius. »Ich glaube nicht, dass wir so weit voneinander entfernt sind, wie Sie denken. Ich bin mit vielem einverstanden, was Sie und Schopenhauer über die Tragik der menschlichen Existenz sagen. Wir trennen uns auf unserem Weg erst bei der Frage: Wie gehen wir damit um? Wie sollen wir leben? Wie begegnen wir unserer Sterblichkeit? Wie leben wir mit dem Wissen, nichts als Lebewesen zu sein, die ohne vorherbestimmten Zweck in ein gleichgültiges Universum geworfen sind?«
»Wie Sie wissen«, fuhr Julius fort, »habe ich zwar größeres Interesse an Philosophie als die meisten Therapeuten, bin aber kein Experte. Dennoch sind mir andere kühne Denker bekannt, die vor diesen grausamen Tatsachen des Lebens nicht zurückgeschreckt und zu ganz anderen Lösungen gelangt sind als Schopenhauer. Ich denke hier besonders an Camus, Sartre und Nietzsche, die eine aktive Teilnahme am Leben befürworten statt Schopenhauers pessimistischer Resignation. Der, den ich am besten kenne, ist Nietzsche. Wissen Sie, als ich meine Diagnose hörte und zunächst in einem Zustand der Panik war, schlug ich Also sprach Zarathustra auf und war davon sowohl beruhigt als auch inspiriert – vor
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