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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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alle Mühe war umsonst. Ich bin keine Katze, habe nur dies eine Leben, und das ist drüben im Bled geblieben, in der Heimat … Selbst wenn ich mir das Grauen in allen Einzelheiten vor Augen führe, um mir Algerien aus den Eingeweiden zu reißen, gelingt es mir nicht. Die Sonne, die Strände, unsere Straßen, unsere Küche, unsere guten alten Zechgelage und unsere glücklichen Tage verdrängen meine Wut, und unversehens lächele ich, anstatt zu beißen. Ich habe Río niemals vergessen, Jonas. Keine einzige Nacht, keinen einzigen Augenblick. Ich erinnere mich an jedes Grasbüschel auf unserem Hügel, an jeden Witz in unseren Cafés, und Simons Späße sind mir derart gegenwärtig, dass sie sogar seinen Tod verdrängen, als ob Simon nicht wollte, dass man sein tragisches Ende mit dem unserer algerischen Träume verknüpft. Ich schwör dir, selbst das habe ich zu vergessen versucht. Ich wollte um alles auf der Welt meine Erinnerungen loswerden, sie mir gleichsam mit der Zange ziehen, eine nach der anderen, wie früher, wenn uns der Barbier einen faulen Backenzahn zog. Ich habe mich auf der ganzen Welt herumgetrieben, war in Lateinamerika und in Asien, um Abstand zu gewinnen und ein neues Leben zu beginnen. Ich wollte mir beweisen, dass es auch andere Länder gibt, dass man sich ein neues Vaterland zulegen kann, wie man sich eine neue Familie zulegt; aber das ist falsch. Ich brauchte nur eine Sekunde innezuhalten, schon stieß es mir auf, musste mich nur umdrehen, um festzustellen, dass es da war – wie mein Schatten, anstelle meines Schattens.«
    »Hättenwir die Heimat wenigstens freiwillig verlassen«, jammert Gustave am Rand des Alkoholkomas. »Aber man hat uns ja gezwungen, Hals über Kopf abzureisen, mit nichts als Kummer und Gespenstern im Gepäck. Man hat uns alles genommen, sogar unsere Seele. Nichts hat man uns gelassen, rein gar nichts. Es ist zum Heulen, Jonas, das ist doch nicht gerecht. Es waren doch nicht alle Leute Siedler, und nicht jeder lief mit der Peitsche und in Reitstiefeln herum; wir hatten ja teilweise noch nicht einmal Stiefel. Wir hatten auch unsere Armen und unsere ärmlichen Viertel, unsere Außenseiter und unsere barmherzigen Samariter, unsere bescheidenen Handwerker, die noch bescheidener waren als eure, und unsere Gebete, die waren den euren oft zum Verwechseln ähnlich. Warum hat man uns alle in denselben Topf geworfen? Warum ließ man uns für die Taten einer Handvoll Großgrundbesitzer büßen? Warum machte man uns glauben, wir seien Fremdlinge auf der Erde, auf der unsere Väter, Großväter und Ururgroßväter zur Welt gekommen sind, seien die Thronräuber eines Landes, das wir mit eigenen Händen erbaut und mit unserem Schweiß und Blut gedüngt haben …? Solange wir darauf keine Antwort haben, wird die Wunde niemals heilen.«
    Die Wendung, die das Gespräch gerade nimmt, behagt mir nicht. Krimo schüttet schon ein Glas nach dem anderen in sich hinein, und ich fürchte, gleich wird er der Diskussion vom Nachmittag neue Nahrung geben.
    »Weißt du was, Jonas?«, bemerkt er, der seit seiner Ankunft noch kein Wort gesagt hat, mit einem Mal. »Ich würde mir wirklich wünschen, dass Algerien es packt.«
    »Algerien wird es packen«, erklärt Fabrice. »Algerien ist ein brachliegendes Eldorado. Alles eine Frage des Bewusstseins. Momentan ist das Land noch auf der Suche, und mitunter sucht es am falschen Platz. Es ist ganz normal, dass es sich daran die Zähne ausbeißt. Aber Algerien ist jung, es wachsen ihm schon wieder neue nach.«
    Bruno fasst nach meiner Hand, drückt sie ganz stark.
    »Ichwürde so gern noch einmal nach Río zurückkehren, und wenn es nur für eine Nacht und einen Tag ist.«
    »Wer hindert dich daran?«, erwidert André. »Es gibt täglich Flüge nach Tlemcen oder Oran. In weniger als anderthalb Stunden kannst du bis zum Hals in der Scheiße sitzen.«
    Wir wiehern laut los, wecken vermutlich die Nachbarn.
    »Im Ernst«, sagt Bruno.
    »Im Ernst was?«, sage ich. »Dédé hat recht. Du nimmst irgendeinen Flieger, und in weniger als zwei Stunden bist du zu Hause. Für einen Tag oder für immer. Río hat sich nicht allzu sehr verändert. Sicher, es ist nicht so fröhlich wie damals, die Blütenpracht der Straßen ist verwelkt, es gibt keine Weinkellereien mehr und kaum noch Reben, aber die Leute sind wirklich einmalig und sehr liebenswert. Wenn du bei mir wohnst, musst du selbstverständlich auch alle anderen besuchen, und eine Ewigkeit reicht dafür nicht

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