Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
1. KAPITEL
Von einem Mädchen in einer Hütte und dem Mann, der sie nach seinem Tod da rausholte
Im Grunde hatten sie ja noch ein glückliches Los gezogen, die Latrinentonnenträger in Südafrikas größtem Slum. Sie hatten nämlich sowohl eine Arbeit als auch ein Dach über dem Kopf.
Eine Zukunft hatten sie statistisch gesehen jedoch nicht. Die meisten von ihnen sollten relativ früh an Tuberkulose, Lungenentzündung, Durchfallerkrankungen, Tabletten, Alkohol oder einer Kombination aus alldem sterben. Vereinzelte Exemplare hatten Aussichten, ihren fünfzigsten Geburtstag zu erleben. Zum Beispiel der Chef eines der Latrinenbüros von Soweto. Doch er war sowohl abgearbeitet als auch kränklich. Er hatte allzu viele Schmerztabletten mit allzu vielen Bierchen heruntergespült, und das Ganze immer allzu früh am Morgen. Infolgedessen hatte er einen Repräsentanten des Amts für sanitäre Einrichtungen von Johannesburg angefaucht. Ein Kaffer, der sich Freiheiten herausnahm! Die Sache wurde dem Abteilungsleiter in Johannesburg berichtet, der seine Mitarbeiter in der Kaffeepause am nächsten Vormittag davon unterrichtete, dass es wohl an der Zeit war, den Analphabeten in Sektor B auszutauschen.
Übrigens eine ungewöhnlich gemütliche Kaffeepause. Es gab nämlich Torte anlässlich der Willkommensfeier für den neuen Assistenten im Sanitätsamt. Er hieß Piet du Toit, war dreiundzwanzig Jahre alt und trat hier seinen ersten Job nach dem Studium an.
Der Neue musste sich auch um das Problem in Soweto kümmern, denn so handhabte man das in der Stadtverwaltung Johannesburg: Wer als Neuling anfing, wurde den Analphabeten zugeteilt, zur Abhärtung gewissermaßen.
Ob die Latrinentonnenträger von Soweto wirklich alle Analphabeten waren, wusste zwar niemand, aber man nannte sie trotzdem so. Zur Schule war jedenfalls keiner von ihnen gegangen. Und sie wohnten samt und sonders in Hütten. Und taten sich entsetzlich schwer, zu verstehen, was man ihnen sagen wollte.
* * * *
Piet du Toit war gar nicht wohl in seiner Haut. Sein erster Besuch bei den Wilden. Sein Vater, der Kunsthändler, hatte zur Sicherheit einen Leibwächter mitgeschickt.
Der Dreiundzwanzigjährige betrat das Latrinenbüro und konnte sich einen entnervten Kommentar zum Geruch nicht verkneifen. Dort, auf der anderen Seite des Schreibtischs, saß der Latrinenchef, der jetzt gegangen werden sollte. Und neben ihm ein kleines Mädchen, das zur Überraschung des Assistenten den Mund auftat und erwiderte, Scheiße habe nun mal die lästige Eigenschaft, dass sie stinke.
Piet du Toit überlegte eine Sekunde, ob das Mädchen respektlos gewesen war, aber das konnte doch eigentlich nicht sein.
Also ging er darüber hinweg. Stattdessen erklärte er dem Latrinenchef, dass er – so sei es nun mal an höherer Stelle beschlossen worden – seinen Job zwar nicht behalten, dafür aber mit drei Monatslöhnen rechnen könne, falls er im Gegenzug bis nächste Woche ebenso viele Kandidaten für seine Nachfolge präsentieren konnte.
»Kann ich nicht meine alte Stelle als Latrinentonnenträger wiederhaben und mir so ein wenig Geld verdienen?«, fragte der soeben abgesetzte Chef.
»Nein«, sagte Piet du Toit, »das kannst du nicht.«
Eine Woche später war Assistent du Toit nebst Leibwächter wieder zurück. Der abgesetzte Chef saß hinter seinem Schreibtisch, zum letzten Mal, wie man wohl annehmen durfte. Neben ihm stand dasselbe Mädchen wie zuvor.
»Wo sind Ihre drei Kandidaten?«, wollte der Assistent wissen.
Der Abgesetzte bedauerte, dass zwei von ihnen nicht anwesend sein konnten. Dem einen war am Vorabend bei einer Messerstecherei die Kehle durchgeschnitten worden. Wo sich Nummer zwei aufhielt, wusste niemand. Eventuell handelte es sich um einen Rückfall.
Piet du Toit wollte gar nicht wissen, welcher Art dieser Rückfall sein könnte. Er wollte nur so schnell wie möglich wieder hier weg.
»Und wer ist der dritte Kandidat?«, fragte er ärgerlich.
»Tja, das ist dieses Mädchen. Sie geht mir schon seit ein paar Jahren zur Hand und hilft hier aus. Und ich muss sagen, sie ist wirklich gut.«
»Ich kann doch wohl keine Zwölfjährige zur Chefin der Latrinenverwaltung machen?«, meinte Piet du Toit.
»Vierzehn«, sagte das Mädchen. »Und ich hab neun Jahre Berufserfahrung.«
Der Gestank setzte ihm von Minute zu Minute mehr zu. Piet du Toit hatte Angst, dass er sich in seinem Anzug festsetzen könnte.
»Hast du schon angefangen, Drogen zu nehmen?«, fragte
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