Die Schuld des Tages an die Nacht
huschen, suche nach ihremGesicht, das, wie ich vermute, von ekstatischer Konzentration zeugt, doch der Bildausschnitt lässt sich nicht verschieben, zeigt mir beharrlich die Tastatur, während die Klänge in meinem Kopf explodieren wie in einem Feuerwerksballett … Mein Hund taucht hinter dem Hügel auf, mit traurigem Blick unter gewölbten Brauen; ich strecke die Hand aus, um ihn zu streicheln; eine absurde Geste, doch ich führe sie aus. Meine Finger gleiten über die Bettdecke, als wäre sie ein Fell. Ich lasse zu, dass in mir die Reminiszenzen aufsteigen, in meinen Atem, meine Schlaflosigkeit, mein ganzes Ich eindringen. Ich sehe unsere Lehmhütte am Ende eines kaum mehr zu erkennenden Pfads … Ich bin das ewige Kind … Man fällt nicht in die Kindheit zurück, man lässt sie in Wahrheit nie hinter sich. Ich und alt? Was ist ein alter Mann anderes als ein Kind, das an Jah ren und Gewicht zugenommen hat …? Meine Mutter eilt den Hü gel hinunter, wirbelt mit den Füßen Sternenstaub auf … Mama, meine liebe Mama . Eine Mutter ist mehr als nur eine Person, und sei sie noch so einzigartig, mehr als ein Lebensabschnitt. Eine Mutter ist eine Präsenz, der weder Zeitläufte noch Gedächtnislücken etwas anhaben können. Das beweist mir jeder Tag, den Gott werden lässt, jede Nacht, in der mich die verborgene Gegenwart im Schlaf heimsucht. Ich weiß , sie ist da, war immer in meiner Nähe, durch alle Lebensalter, unvollendeten Gebete, aufgekündigten Versprechen, unerträglichen Momente der Einsamkeit und verlorenen Liebesmühen hindurch … Weiter hinten kauert mein Vater auf einem Haufen Steine und schaut unter seinem Hut aus Alfagras dem Abendwind zu, der die schlanken Halme umfängt … Dann geht alles ganz schnell: das Feuer, das unsere Felder verwüstet, die Kutsche des Kaid, der Eselskarren, der uns dorthin bringt, wo es keinen Platz für meinen Hund mehr gibt … Djenane Djato … Der singende Barbier, Holzbein, El Moro, Ouari und seine Stieglitze … Germaine, die mich unter dem gerührten Blick meines Onkels in die Arme schließt … Dann Río, Río und nochmals Río … Ich schließe die Augen, um etwas zu Endezu bringen, eine tausendmal beschworene und tausendmal verfälschte Geschichte zu stoppen … Und los! … Unsere Lider verwandeln sich in Geheimtüren. Sind sie geschlossen, erzählen sie von uns, sind sie offen, geben sie den Blick frei auf uns. Wir sind Geiseln unserer Erinnerungen. Unsere Augen gehören uns nicht mehr … Ich suche nach Émilie in diesem Film, dessen Fetzen mir durch den Kopf schwirren; sie ist nirgends. Unmöglich, zum Friedhof zurückzukehren und den Rosenstaub wieder einzusammeln, unmöglich, in die Rue des Frères-Julien zurückzukehren, zum Haus mit der Nummer 143 , in den Zustand der Vernunft, den Zustand derer, die sich am Ende zwangs läufig miteinander aussöhnen , zurückzukehren. Ich kämpfe mich durch die riesige Menschenmenge, die in jenem Sommer 1962 in den Hafen von Oran strömt; ich sehe Familien verstört auf den Hafenkais sitzen, auf den wenigen Gepäckstücken, die sie haben retten können, sehe Kinder zu Tode erschöpft auf der bloßen Erde schlafen, sehe das Fährschiff, das sich anschickt, die Entwurzelten dem Exil und seinen Irrungen zu überantworten; ich taste sie alle der Reihe nach ab, all die Gesichter, die einander Rufenden, die sich Umarmenden, die Taschentücher Schwenkenden, und finde doch nirgends eine Spur von Émilie … Und ich in all dem? Ich bin nur ein Blick, der endlos durch die Leere schweift, endlos durch blankes Schweigen …
Was soll ich anfangen mit dieser Nacht?
Wem soll ich mich anvertrauen?
Eigentlich will ich mit meiner Nacht gar nichts anfangen, will mich niemandem anvertrauen … Es gibt eine Binsenweisheit, die uns für alles rächt: Alles hat ein Ende, und kein Unglück währet ewig.
Ich nehme all meinen Mut zusammen, öffne die Schachtel, dann den Brief. Er ist auf eine Woche vor Émilies Tod datiert. Ich atme tief durch und beginne zu lesen:
»LieberYounes,
ich habe am Tag nach unserer Begegnung in Marseille auf Dich gewartet. An derselben Stelle. Auch am nächsten Tag habe ich auf Dich gewartet, und an den darauffolgenden Tagen. Du bist nicht mehr gekommen. Mektoub, wie man bei uns sagt. Ein Nichts genügt im Guten wie im Bösen. Man muss lernen, das zu akzeptieren. Mit der Zeit kommt man zur Vernunft. Ich bedaure alle Vorwürfe, die ich Dir gemacht habe. Vielleicht habe ich deshalb nicht gewagt, Deine Briefe zu
Weitere Kostenlose Bücher