Die Schuld einer Mutter
ist?«
Joe zuckt zusammen.
»Ja, die Möglichkeit gibt es natürlich auch noch«, sagt er, »aber ich dachte eher an das Mädchen, das in Bowness wiederaufgetaucht ist, weißt du noch? Das vergewaltigt wurde?«
Ich schlage mir die Hände vors Gesicht. Das arme Ding hatte ich komplett vergessen. Einfach auf der Straße ausgesetzt, halb nackt und ohne jede Orientierung.
Als ich den Zeitungsartikel las, musste ich sofort an Sally denken. Wie sehr sie sich manchmal schämt. So sehr, dass sie sich beim Ausziehen von mir abwendet. Wenn wir einkaufen gehen, probiert sie neue Shirts immer so an, dass ich ihren BH nie von vorn sehe. Als ich die Geschichte von dem Mädchen las, schoss mir ein Bild von Sally durch den Kopf: Sally mit nacktem Oberkörper. Sally, wie sie ein überfülltes Reisebüro betritt und nach der Tortur um Hilfe bittet und dabei umkommt vor Scham.
»O nein, bitte nicht«, wimmere ich, »o nein, doch nicht Lucinda! Sie ist doch noch so klein.«
Joe kratzt sich unter dem Kinn. Er hat sich heute noch nicht rasiert, und sein Bart kitzelt ihn.
»Könnte es sein, dass sie freiwillig verschwunden ist?«, fragt er.
»Wie meinst du das?«
»Du kennst das Mädchen besser als ich, Lise. Ich achte nicht so sehr auf Sallys Freundinnen … ich halte mich lieber raus.«
Ich werfe ihm einen bösen Blick zu. Seine Worte überraschen mich. »Ja, aber Lucinda kennst du doch wohl? Sie ist nicht einfach bloß eine von Sallys Freundinnen. Sie geht seit Jahren bei uns aus und ein, wie kannst du da behaupten, du würdest sie kaum kennen? Schließlich …«
»Es würde einfach nur zu seltsam aussehen, wenn ich mich ausgeprägt für sie interessieren würde. Mehr wollte ich damit nicht sagen«, fällt er mir ins Wort. »Du kennst Lucinda besser als ich. Du weißt, was in ihr vorgeht. Du siehst Kate ständig – redet ihr nie über die Mädchen?«
»Doch, natürlich. Aber sie hat noch nie gesagt, dass sie sich Sorgen macht. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern.«
»Und Sally hat nie erzählt, ob Lucinda unglücklich ist? Ob sie einen Freund hat? Oder ob Kate ihr dermaßen auf die Nerven geht, dass sie von zu Hause ausreißen will?«
»Du glaubst, Kate ginge ihr auf die Nerven?«
»Sind nicht alle Teenager von ihren Müttern genervt?«
»Ja, kann schon sein, aber …« Ich halte inne. »Verdammt, Joe, wir dürfen nicht so reden. Im Ernst. Kate ist am Ende, und wir sitzen hier im Auto und debattieren, ob ihrer Tochter eine Laus über die Leber gelaufen ist.«
»Aber denkbar wäre es«, sagt er.
»Ja. Genauso denkbar wäre, dass unsere Tochter ausreißt. Aber glaubst du im Ernst, sie würde das tun?«
Er schweigt. Er betrachtet das Haus und löst seinen Sicherheitsgurt. Wir sollten wohl besser aussteigen, bevor uns jemand sieht.
Wir lassen das Taxi in der Parkbucht stehen und legen den Rest der Strecke zu Fuß zurück. Beim Ausatmen stoßen wir weiße Dampfwolken in die eisige Luft. Als wir das Grundstück erreicht haben, öffnet sich die Haustür, und ein Polizist kommt heraus. Er trägt zwei Laptops unter dem Arm, und bei seinem Anblick gefriert mir das Blut in den Adern. Ich habe das Gefühl, alles nur im Fernsehen zu sehen. Das sind tragische Ereignisse im Leben einer Unbekannten. Das alles hat mit Kate nichts zu tun. Der Polizist ist sehr jung und hat ein glattrasiertes Kindergesicht. Er nickt höflich, als wir zur Seite treten, um ihn durchzulassen. Als er Joe entdeckt, zögert er kurz.
»Hallo, Joe«, grüßt er.
»Rob«, gibt Joe zurück. Das ist alles, mehr sagen sie nicht. Ich habe keine Gelegenheit, Joe zu fragen, woher er den Mann kennt, denn ich bin schon fast an der Haustür, und mein Magen krampft sich bedrohlich zusammen. Die knallrote, mit Hochglanzlack behandelte Tür steht offen. Ich drücke nicht auf die Klingel. Es käme einem Überfall gleich, jetzt den lauten, schrillen Ton zu hören. Stattdessen klopfe ich vorsichtig an und gehe direkt hinein – etwas, was ich noch nie getan habe, seit ich Kate kenne.
Ich höre leises Stimmengewirr und bleibe im Flur stehen, um mich zu sammeln. Joe ist hinter mir eingetreten, und ich spüre seine Hand auf meiner Schulter. Geh weiter, drängt er mich stumm. Geh weiter, geh voran, alles wird gut. Aber ich fühle mich nicht gut.
Die Tür rechts von mir, die zum Salon – oder Wohnzimmer, wie es bei uns zu Hause heißt –, ist fest geschlossen. Offenbar haben sich alle im Familienzimmer versammelt.
Ich gehe weiter bis ans Ende des Korridors und
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