Die Schuldlosen (German Edition)
Worte mit ihr gewechselt haben.
Trotz der verschlungenen Wege, die diese Information genommen hatte, zweifelte Franziska nicht am Wahrheitsgehalt. Es waren vier Jahre vergangen, seit Helene ihre über alles geliebte Alexa hatte begraben müssen. Seitdem hatte Franziska sie nicht mehr gesehen. Mit Ausnahme des Besuchs am Krankenbett, nachdem Helene sich mit Schlaftabletten das Leben hatte nehmen wollen. Nach den nächsten beiden Versuchen mit dem Rasiermesser und dem Auto war Franziska ja nicht mehr ins Haus gelassen worden, wenn sie Helene besuchen wollte.
Aber es war einleuchtend, dass es Helene ebenso zu ihrer Tochter zog wie Franziska zu Mariechen. Dass sie sich bisher auf dem Friedhof nicht begegnet waren, bedeutete nichts. Der Tag hatte schließlich mehr als nur eine halbe Stunde.
Von der Kinderecke aus hatte Franziska die große Grabstelle der Familie Schopf-Junggeburt mit dem monumentalen Stein sehr gut im Blick. Das Eckgrab war stets tipptopp gepflegt, darum kümmerte sich die Gärtnerei Wilms. Das hatte Franziska schon mehrfach beobachtet.
Wenn sie erst am späten Nachmittag zu Mariechen ging, war ihr verschiedentlich Albert Junggeburt aufgefallen, der um die Zeit wohl in der Brauerei Feierabend hatte und seiner Schwester frische Blumen brachte oder ein neues Öllicht in die Grableuchte stellte. Es brannte immer eins. Und dass Albert täglich kam, um eine ausgebrannte Hülle gegen einen frischen Vierundzwanzigstundenbrenner zu tauschen, konnte Franziska sich nicht vorstellen. An den eisernen Heinrich dachte sie in dem Zusammenhang gar nicht. Sie war überzeugt, dass Helene das tat.
Vermutlich kam Helene erst nach Einbruch der Dunkelheit. Wenn sie von ihrem dritten Selbstmordversuch mit dem Auto so schwer entstellt war, wie allgemein behauptet wurde, wenn sie im Rollstuhl saß, die Beine und ihr Augenlicht verloren hatte, war es ihr vermutlich unangenehm, gesehen zu werden.
Aber Helene saß weder im Rollstuhl, noch war sie erblindet, wie Franziska im März 1977 feststellte. Dass die Leute auch immer so übertreiben mussten. Als ob die nackten Tatsachen nicht schlimm genug gewesen wären!
Franziska setzte an dem Tag eine Azalee in das Fleckchen Erde, das Mariechens sterbliche Überreste aufgenommen hatte. Erde zu Erde. Wahrscheinlich war längst nichts anderes mehr da unten. Und höchstwahrscheinlich würde auch diese Azalee so groß werden wie die vorherigen. Wenn sie die Einfassung überwucherte, musste Franziska sie wieder ausgraben und in den Garten setzen. Da standen schon einige, obwohl es angeblich Unglück bringen sollte, etwas von den Toten zu nehmen und bei den Lebenden einzupflanzen.
Als sie den Blick hob, sah sie das schwarz gekleidete Klappergestell wie traumverloren über den roten Splittweg herankommen. Ein Hut mit Schleier verdeckte das Gesicht. Dass es Helene war, erkannte Franziska erst, als sie selbst bemerkt und der Schleier gehoben wurde.
Sie tauschten ein paar Floskeln. Lange nicht gesehen. Schönes Wetter heute. Wie geht’s dir? Danke, gut, und dir? Ich kann nicht klagen. Nur nicht am Schmerz rühren. Helene sprach, als sei sie betrunken oder von Medikamenten benommen. Der dritte Selbstmordversuch hatte unübersehbare Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Eine tiefe Narbe zog sich quer über die Stirn, eine zweite kerbte die linke Wange ein, eine dritte teilte das Kinn. Das linke Augenlid hing herab, ebenso der Mundwinkel, als hätte Helene zwischenzeitlich noch einen Schlaganfall erlitten. Genauso gut konnten es Folgen der Verletzungen sein, durchtrennte Nerven womöglich.
Franziska war jedenfalls sehr erschrocken, nicht nur wegen des entstellten Gesichts. Helenes Körper schien das jüngste Gerücht zu bestätigen. Abgesehen vom ballonartig aufgetriebenen Leib war sie tatsächlich nur noch Haut und Knochen.
Dass Helenes Bauch von etwas anderem als einer bösartigen Krebsgeschwulst aufgetrieben sein könnte, auf den Gedanken wäre Franziska von allein nie gekommen. Auch das erzählte ihr zwei Tage später ihre jüngste Schwester. Martha hatte es ihrerseits unter dem Siegel der Verschwiegenheit von einer Kundin erfahren, deren Schwiegertochter in der Grevinger Apotheke arbeitete, in der Rezepte für Helene eingelöst wurden. In letzter Zeit hauptsächlich Eisen-, Vitamin- und Kalziumpräparate. Antidepressiva nähme Helene seit Monaten nicht mehr, auch keine Schmerz- oder Schlaftabletten, war Martha anvertraut worden.
Auf Anhieb konnte Franziska nicht glauben, dass Helene
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