Die Schuldlosen (German Edition)
Büdchen daraus gemacht.
Seitdem gab es an der S-Bahn-Station keine fettigen Pommes und keine Würste mehr, bei denen kein Mensch wusste, was drin war. Heike verkaufte stattdessen lecker und appetitlich belegte Brötchen, eine breite Palette von Süßigkeiten, Kaffee in verschiedenen Variationen, Tee, Kakao, Milch und Kaltgetränke in Dosen oder Tetrapacks.
Ab Mittag war zusätzlich Kleingebäck im Angebot. Das stammte wie die Brötchen aus der elterlichen Bäckerei in Garsdorf, die seit Jahren Heikes Bruder führte, unterstützt von einem Gesellen und einem Lehrling. Der alte Jentsch ging auf die siebzig zu, stand aber wahrscheinlich immer noch regelmäßig mit in der Backstube. Solche wie der kannten keinen Ruhestand.
Offiziell geöffnet war Heikes Kaffeebüdchen von halb sechs in der Früh bis um sechzehn Uhr. Aber so genau nahm das niemand. Nachmittags blieb die Tür auf, bis das letzte Plunderteilchen oder Brötchen verkauft war. Das konnte auch schon mal um halb vier der Fall sein. Zum Ausgleich bekamen Berufstätige, die frühmorgens mit der ersten Bahn zur Arbeit fuhren, schon um Viertel nach fünf einen frisch aufgebrühten Kaffee und ein von Heike eilig geschmiertes Brötchen, Polizisten auf Streife, die das Ende ihres Nachtdienstes herbeisehnten, ebenso. Heike kannte fast alle, die in der Grevinger Wache ihren Dienst versahen.
Ihn kannte sie natürlich auch und musste ihn nicht gleich bei seiner Ankunft zu Gesicht bekommen. Denn es war ihre Aussage gewesen, die vor sechs Jahren zu seiner Verurteilung geführt hatte. Und nach der Urteilsverkündung hatte er ihr prophezeit, das werde ihr noch leidtun.
Er spielte kurz mit dem Gedanken an ein Taxi. Das Wetter lud nicht unbedingt zu einem längeren Spaziergang ein. Der Himmel war eine Palette unterschiedlicher Grautöne, die Luft so diesig, dass sie sich wie ein feuchter Lappen aufs Gesicht legte. Und er hatte einiges zu schleppen. Aber er sehnte sich nach Bewegung an frischer Luft. Es hätte ihm nichts ausgemacht, an der Greve entlang bis nach Garsdorf zu laufen.
Doch zuerst musste er zu dem Prachtbau am Stadtrand von Grevingen, den Albert für sich und die Seinen in die Landschaft hatte stellen lassen. Seine Schwägerin war daheim und allein. Die Putzhilfe hatte sich wohl gerade erst verabschiedet. Der Fußboden in der Diele sah aus wie geleckt. Seine Schuhe hinterließen nach dem Marsch auf den Straßen hässliche Spuren.
Vielleicht war Cecilia nur deshalb nicht erfreut, ihn zu sehen. Vielleicht war sie auch verärgert, weil sie den halben Tag umsonst auf ihn gewartet hatte. Oder sie befürchtete wegen all der Tüten, er wolle sich in ihrem trauten Heim einquartieren und ihre Putzfrau requirieren, um sein Domizil in Garsdorf erst mal wohnlich herrichten zu lassen. Als er nach der knappen Begrüßung sofort die Schlüssel verlangte, hatte Cecilia Mühe, ihre Erleichterung nicht zu offenkundig zur Schau zu stellen.
Sie eilte davon, die Schlüssel lagen schon bereit. Keine zehn Sekunden später war sie wieder da, streckte ihm das Gewünschte entgegen und fragte wohl nur der Form halber: «Brauchst du sonst noch etwas?»
«Ein Kaffee wäre nicht schlecht», antwortete er, um sie aus der Reserve zu locken. «Ein guter, starker Kaffee. Einen Abstecher in Heikes Kaffeebüdchen habe ich mir verkniffen. Und die Brühe, die sie im Knast servieren, sieht aus wie Spülwasser und schmeckt auch so ähnlich. Kann ich beurteilen, ich musste mal Spülwasser trinken. Einer wollte mir unbedingt zeigen, wie es sich anfühlt, wenn man mit dem Gesicht ins Wasser gedrückt wird.»
Cecilias Zusammenzucken war nicht zu übersehen, der rasche Blick auf ihre Armbanduhr zu demonstrativ, um ihre folgenden Worte für ehrlich zu halten. «Viel Zeit habe ich leider nicht mehr. Ich mache dir natürlich gerne einen Kaffee – aber wenn ich dich noch nach Garsdorf fahren soll …»
«Mach dir keine Umstände», sagte er. «Ich muss noch mehr einkaufen. Oder hast du mir den Kühlschrank gefüllt?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Dachte ich mir», sagte er. «Putzmittel brauche ich wahrscheinlich auch, oder?» Ihre Antwort wartete er nicht ab, drehte sich auf dem Absatz um und ließ sie mitten in ihrer geleckten Diele stehen.
«Du willst aber doch nicht mit all den Sachen den ganzen Weg zu Fuß …», hörte er sie im Hinausgehen stammeln. Plötzlich wirkte sie verunsichert und beschämt.
Vielleicht war ihr gerade wieder eingefallen, wie oft sie ihn früher gebraucht hatte.
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