Die Schuldlosen (German Edition)
schwanger sein sollte. Mit achtundvierzig? Ende der siebziger Jahre brachte man in dem Alter freiwillig keine Kinder mehr zur Welt. Man steuerte aufs Klimakterium zu und bekam Enkel. Oder fürchtete, bald Enkel zu bekommen, weil die Tochter sich mit allerlei Gesindel herumtrieb und den Heimweg nur fand, wenn es ihr richtig dreckig ging.
Franziska glaubte es nicht einmal sofort, als zwei Monate später bekannt wurde, dass Helene in einer Kölner Klinik von einem zweiundfünfzig Zentimeter großen und gute sieben Pfund schweren Baby entbunden worden war. Leider kein Mädchen, wie sie wohl sehnlich gehofft hatte. Aber der Junge war gesund, und das sei die Hauptsache, fanden alle.
Gottfried hörte es beim sonntäglichen Frühschoppen in der Kneipe. Als er heimkam, wollte er sich immer noch ausschütten vor Lachen. «So viel zum Tumor», sagte er, nachdem er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. «Da soll noch mal einer behaupten, der eiserne Heinrich hätte Helene nur wegen der Brauerei geheiratet. Wenn dem so wäre, hätte er sie doch in die ewigen Jagdgründe ziehen lassen können, statt sein bestes Stück noch mal aus der Mottenkiste zu kramen. Es muss ihn ziemliche Überwindung gekostet haben. Eine Schönheit ist Helene wohl nicht mehr. Als sexbesessen konnte man Heinrich auch nie bezeichnen. Und nach einem Mal war der Braten kaum in der Röhre.»
Franziska schüttelte nur den Kopf zu Helenes später Niederkunft. In dem Alter noch ein Kind, wer sich das aus eigenem Entschluss antat, musste den Verstand verloren haben.
Helene hatte ihn verloren. Doch das wurde Franziska erst so richtig klar, als sie fünf Jahre später, an dem Mittwoch im Dezember 1982, mit eigenen Augen sah, was ihr bis dahin nur gerüchteweise zu Ohren gekommen war: dass Helene ihren Jüngsten ausstaffierte wie ein Mädchen und dass sie den Jungen, der auf den Namen Alexander getauft worden war, beim selben Namen nannte wie die verstorbene Tochter – Alexa.
Einen Satansbraten (wie während seiner Schulzeit) oder Teufel in Menschengestalt (wie nach Janice Hecklers Tod) nannte ihn zu der Zeit noch niemand. Im Gegenteil, der kleine Alexander wurde allgemein bedauert. Und manch einer warf die Frage auf, warum der eiserne Heinrich nicht durchgriff und Helene den Kopf zurechtsetzte. Wohin sollte das denn führen, was sollte aus dem armen Jungen werden?
Herbst 2010
Er wusste, wie sie in dem Kaff über ihn dachten, dass sie ihn für eine Ausgeburt der Hölle hielten. Wahrscheinlich war er eine. In den letzten sechs Jahren hatte er sich das jeden Tag vor Augen gehalten.
Am letzten September wurde er aus der JVA Ossendorf entlassen, nachdem er zwei Drittel seiner Strafe verbüßt hatte. Die restlichen drei Jahre waren zur Bewährung ausgesetzt worden. Seine Anwältin holte ihn ab, hätte ihn auch nach Hause gefahren. Doch er wollte sich in Köln erst mal neue Klamotten besorgen, unter anderem eine schicke Lederjacke, wie er mit zwanzig eine besessen hatte. Die zog er auch sofort an.
Und zwei Paar Schuhe, eins zum Laufen. Das hatte er sich fest vorgenommen: laufen, wohin und wann immer er die Lust dazu verspürte, und wenn’s um drei Uhr nachts war. Die Schuhe waren nicht billig, aber Geld war für ihn kein Problem. Das war es nie gewesen, nicht mal im Knast, dafür hatte seine Mutter gesorgt.
Als sie die Brauerei auf seinen Bruder überschrieben hatte, war Alex zwanzig gewesen, und kein Mensch hatte mehr erwartet, er könne sich noch zu einem brauchbaren Mitglied der Gesellschaft entwickeln. Sein Vater war immer nur Geschäftsführer und Platzhalter für Albert gewesen. Und Alex war ein Taugenichts, hatte bereits einen Gebrauchtwagenhändler aus Grevingen auf dem Gewissen. Stecher und Dosenöffner nannte man ihn zu der Zeit in Garsdorf. Doch auch so einer musste von etwas leben.
Deshalb war Albert verpflichtet, sowohl dem eisernen Heinrich als auch dem missratenen Brüderlein jeden Monat einen gewissen Betrag für eine angemessene Lebensführung zu überweisen. Die Summe war abhängig vom Umsatz der Brauerei, nicht etwa vom Gewinn. Damit Albert nicht auf die Idee kam, umfangreiche Modernisierungen vorzunehmen oder Unsummen zu investieren und den Dosenöffner am langen Arm verhungern zu lassen, um ihn auf die Weise zur Vernunft zu bringen.
Seit seiner Verurteilung hatte Albert den Unterhalt um die entstandenen Unkosten gekürzt. Die Anwältin und einiges mehr musste bezahlt werden. Es hatte sich trotzdem ein hübsches Sümmchen auf seinem
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