Die Schuldlosen (German Edition)
Einer, der wie er gelernt hatte, mit Puppen zu spielen, eignete sich hervorragend als Babysitter. Und er war immer da gewesen, um ihre Brut zu hüten.
Damals hatten seine Nichte und der Neffe ihn heiß und innig geliebt. Seit seiner Festnahme wollten beide nichts mehr mit ihm zu tun haben. Sie waren sofort auf Distanz gegangen, hatten nicht mal den Prozess abgewartet. Dabei hätte es durchaus sein können, dass er freigesprochen worden wäre, weil die Beweise nicht für eine Verurteilung reichten.
Beweise hatten sie doch gar keine gehabt, bloß eine Theorie und die Aussage der Bäckerstochter. Wäre es seiner Anwältin gelungen, Heike Jentsch im Zeugenstand ebenso auseinanderzunehmen wie alle anderen, die sich eingebildet hatten, ihn hinter Schloss und Riegel bringen zu können, hätten sie nichts gegen ihn in der Hand gehabt und ihn freisprechen müssen. Aber zu dem Zeitpunkt war er von den meisten längst für schuldig befunden worden. Seine eigene Familie hatte da keine Ausnahme gebildet, dafür hatte der eiserne Heinrich gesorgt. Für den war er immer untragbar gewesen.
«Nur bis zum Supermarkt», sagte er im Hinausgehen. «Dort ruf ich mir ein Taxi.» Damit zog er die Haustür hinter sich zu und schluckte den Kloß im Hals hinunter. Von Cecilia hatte er ein bisschen mehr erwartet, wenigstens einen Kaffee und vielleicht ein «Tut mir leid, dass ich dich nie in Ossendorf besucht und dir nie geschrieben habe, Alex. Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte». Das hätte er verstanden. Er hatte auch nicht gewusst, was er noch sagen sollte.
Es gab zwei Supermärkte in Grevingen. Beide lagen in der Innenstadt, wo ihn vermutlich bald irgendwer erkannt hätte. Einerseits reizte es ihn festzustellen, wie die Leute auf seinen Anblick reagierten. Andererseits hatte seine Schwägerin ihm überdeutlich vor Augen geführt, dass ihm keiner vor Wiedersehensfreude um den Hals fallen würde. Das durfte er auch nicht erwarten, was ihm sehr wohl bewusst war. Und er musste es ja nicht gleich darauf anlegen, sich dumm anglotzen oder anfeinden zu lassen.
Der Discounter war anonymer, abgesehen davon billiger und mit einem Hauch von Erinnerungen an unbeschwerte Zeiten behaftet. Der weitläufige Flachbau war vor zehn Jahren zusammen mit anderen Billigläden auf dem ehemaligen Betriebsgelände der Brauerei Schopf entstanden. Gebraut wurde seit langem im Grevinger Gewerbegebiet. Dort hatten sie die Autobahnauffahrt fast vor der Haustür; praktisch für die Lastwagen, die längst nicht mehr nur das gute Schopf-Bier durch die Lande karrten. Nachdem sein Bruder die Brauerei übernommen hatte, waren bald Wellness-Getränke und Bio-Limonade dazugekommen. «Man muss mit der Zeit gehen, sonst geht man unter», hatte Albert gesagt.
Er packte seine Tüten in einen der Einkaufswagen, die man mit einem Euro von der Kette nehmen konnte, lud an Lebensmitteln und Getränken dazu, wonach ihm der Sinn stand. Eine Menge Süßigkeiten, ein paar Fertiggerichte und zwei Flaschen Schopf-Bier, obwohl er sich von Alkohol fernhalten sollte. Darauf hatte die umsichtige Frau Doktor Brand ihn beim Abschied noch einmal ausdrücklich hingewiesen. Aber das Bier war für ihn kein Alkohol, das waren Erinnerungen.
Bei den Putzmitteln beschränkte er sich auf Geschirrspülmittel, eine WC-Ente und Essigreiniger. Eimer, Lappen, Bürsten, Schrubber, Besen und was man sonst zum Saubermachen brauchte, gab es garantiert noch in der Villa. Zu guter Letzt lud er ein Päckchen Waschpulver und einen Weichspüler mit der Duftnote «Blumenwiese» ein.
An der Kasse legte er seine Klamottentüten brav mit aufs Laufband und ließ die Kassiererin einen Blick in jede werfen. Ihr schien diese Kontrolle peinlich. Sie war Mitte zwanzig, ihr Akzent verriet, dass sie aus dem Osten stammte. Vermutlich hatte sie nicht die geringste Ahnung, wer er war. Und er sah mit seinen dreiunddreißig Jahren immer noch aus wie der Dosenöffner vergangener Zeiten, daran hatte der Knast nichts geändert. Allein diese Augen, unter deren Blick Franziska Welter vor achtundzwanzig Jahren auf dem Friedhof erschaudert war. Später war Franziskas Enkeltochter erschaudert, aber aus anderen Gründen.
Nachdem er gezahlt hatte, wies die Kassiererin ihn auf einen Haufen leerer Kartons hin, in denen er alles verstauen könne. Dann wünschte sie ihm noch einen schönen Tag. Und ihre Miene ließ ihn annehmen, dass die Frage, ob sie am Abend schon etwas vorhabe, mit einem erwartungsvollen Nein beantwortet worden
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