Die schwarze Schatulle
der Uhrzeit, dass kaum Autos vorbeifuhren, es war ja noch mitten am Vormittag. Die Straße war so ruhig wie am Vorabend vom Schabbat. Ich schaute zu Benjis Haus hinauf. Die Sonne spiegelte sich in den Fenstern vom zweiten Stock, und es war nichts zu sehen außer dem blendenden Glitzern. Außerdem war es sowieso zu weit weg, um etwas zu sehen, auch ohne Sonne. Ich war mir schon gar nicht mehr sicher, ob ich tatsächlich ein Gesicht gesehen hatte. Vielleicht hatte ich es mir nur eingebildet? Und wenn es wirklich ein Gesicht gewesen war, wem gehörte es dann? Wenn nicht Benji, wem denn sonst? Und was war mit Benji? Wo steckte er?
Bis vor gar nicht so langer Zeit wusste ich noch nicht, dass ich in Joli verliebt bin. Manche Sachen erfährt man, weil man sie in Büchern liest, manche, weil man sie von jemandem gehört hat, aber wenn es um Liebe geht?
Wenn einem etwas wehtut, ein Arm oder ein Bein, merkt man das sofort, und wenn man krank wird, auch. Auch wenn man wütend auf jemanden wird. Aber wenn man sich in jemanden verliebt? Vor zwei Monaten, als ich nach unserem Klassenausflug krank wurde und zu Hause blieb, lag ich im Wohnzimmer auf dem Sofa und spielte gegen mich selbst Karten. Danach schaute ich mir einen Film an, den ich mir, wenn ich gesund gewesen wär, nie angeschaut hätte.
Der Film handelte von einem englischen Mädchen, das in Indien geboren war. Ihre Mutter starb und ihr Vater zog sie auf wie eine Prinzessin, mit Kindermädchen und Dienern. Später beschloss der Vater, sie müsse eine bessere Erziehung bekommen, und brachte sie nach England, in ein Internat. Das war angeblich ein ganz prächtiges Internat, für Mädchen aus reichen Familien, und die Leiterin empfing den Vater und das Mädchen sehr feierlich. Das Mädchen bekam ein Zimmer mit genügend Platz für all ihre Sachen, und man hätte denken können, alles wäre in Ordnung. Doch kaum hatte ich das Gesicht der Internatsleiterin gesehen, da wusste ich, dass keineswegs alles in Ordnung sein würde, man sah ihr die Bosheit an, trotz ihrer Höflichkeit und ihrer Schmeicheleien. Ich wusste, dass es dem Mädchen dort nicht gut gehen würde. Und tatsächlich, kaum war ihr Vater abgereist, fingen sie an, das Mädchen zu quälen, zu boykottieren und zu verspotten. Sie durfte nichts mehr tun, einfach nichts. Und als später eine Nachricht kam, ihr Vater sei in einem fernen Krieg umgekommen, und als deshalb auch kein Geld mehr eintraf, wurde sie zum Dienstmädchen gemacht. Man hat ihr alle Sachen abgenommen und ein Dachzimmer zugewiesen, zusammen mit einem anderen Waisenmädchen aus Afrika. Im Zimmer war es kalt und es gab Mäuse. Sie hat fast kein Essen bekommen und die anderen Mädchen durften nicht mit ihr reden.
Ich habe gleich gewusst, dass das ein Film für Mädchen ist, aber es gab ein paar Sachen, deretwegen ich nicht aufhören konnte, ihn anzuschauen. Da waren die Bilder von ihrem Leben in Indien, und außerdem gab es auch ein paar märchenhafte Dinge, zum Beispiel einen Prinzen, den sie jedes Mal sah, wenn es ihr schlecht ging, und manchmal half er ihr auch. Der Prinz und der Affe, der nachts durch das Fenster in die Dachkammer kam und mit ihr in der Affensprache redete. Der Affe war ein Gesandter des indischen Prinzen.
Ich finde solche Sachen spannend, die es in Wirklichkeit nicht gibt, Feen und Zwerge und Prinzen. Natürlich glaube ich nicht an sie, aber ich sehe sie mir trotzdem gern an. Das Mädchen im Film, das die ganze Zeit das schwarze Mädchen ermutigte und so gut war und immer daran glaubte, dass alles wieder gut würde, erinnerte mich an Joli.
Joli glaubt auch immer, dass am Schluss alles in Ordnung kommt. Auch als sie sich den Arm gebrochen hatte und zur Untersuchung ins Krankenhaus musste. Sie hatte Tränen in den Augen, weil es ihr so wehtat, trotzdem versuchte sie zu lächeln und rief uns aus dem Auto von Krankenschwester Ziona zu, sie wäre bestimmt morgen wieder in der Schule, dann dürften wir ihr was auf den Gips schreiben. Am Schluss hat sie aber wegen meiner Zeichnung fast niemanden auf den Gips schreiben lassen. Nur Benji durfte seinen Namen hinmalen. Man sah ihm an, wie geehrt er sich fühlte.
Und was, wenn jemand ihn im Haus eingesperrt hat und er nicht hinaus darf? Und ihn quält, wie man es manchmal in Filmen sieht? Vielleicht sieht alles nur in Ordnung aus, so wie in diesem Internat im Film, vielleicht ist das große Haus mit den Bogenfenstern und dem Parkettboden und dem Bärenvorleger nur Theater? Meine Mutter
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