Die schwarze Schatulle
übergehen.« Es stimmte aber nicht, dass ich keinen Grund hatte, stolz zu sein, das Bild war wirklich gut. Aber ich schwieg und ging schnell in meine Klasse. Ich hatte schon die halbe Schulstunde verpasst.
Das Klassenzimmer war leer. Alle waren beim Sport, außer Joli, die auf ihrem Stuhl saß und ein Buch las. Sie hielt es mit der linken Hand, am rechten Arm hatte sie noch den Gips. Der war nicht mehr weiß und bröckelte auch schon ein bisschen. Heute sollte sie ihn abbekommen, das wussten alle. Am Morgen hatte sie zu mir gesagt, sie würde darum bitten, dass man ihr den Gips ganz vorsichtig runternimmt, damit der Vogel, den ich gemalt hatte, heil blieb. Sie wollte den Vogel einrahmen und in ihr Zimmer hängen, wie ein richtiges Bild.
An dem Tag, an dem Joli mit dem Gips aus dem Krankenhaus gekommen war, als er noch ganz weiß war und niemand etwas drauf geschrieben hatte, hatte sie mich gebeten, ihr etwas draufzumalen. Sie sagte nicht, was sie wollte, nur, dass es etwas sein sollte, was ich gern hätte. Das tat ich. Ich malte den Adler, der Nimrod auf der Schulter sitzt. Ich malte ihn rot und schwarz an und er sah aus, als würde er ihr auf der Hand sitzen, die sich unter dem Gips befand. Sehr stolz, mit gewölbter Brust und mit einem großen, schrecklichen Schnabel. Ich brauchte lange zum Malen und die ganze Zeit war ich ganz nah bei Joli. Viele aus der Klasse standen um uns herum und schauten zu, aber das war mir egal. Jedes Mal, wenn Joli sich bewegte, berührten ihre Haare meine Hand und das war wie ein Stromstoß. Und wenn sie sich vorbeugte, um das Bild zu betrachten, roch ich den Duft ihrer Haare. Später sagte Joli einmal, jeder, der sie mit dem Gips sah, wolle das Bild anschauen. Sogar die Krankenschwester hätte es bewundert und gefragt, wer der Künstler sei.
Jetzt hob sie die Augen von ihrem Buch. Ich setzte mich auf Majas Stuhl, in der Reihe vor Joli, und drehte mich um. Joli lächelte und fragte, warum ich nicht beim Sport war, und ich sagte: »Wegen Herrn Sefardi und meinem Malheft.«
Sie lachte, dass man ihre Grübchen unter den Augen sehen konnte und auch ihren Vorderzahn, bei dem ein kleines Stück rausgebrochen ist. Das ist der einzige Makel in ihrem Gesicht, der abgebrochene Zahn, und ausgerechnet der macht sie noch schöner. Das habe ich im Malzirkel im Museum gelernt, dass wirkliche Schönheit immer einen kleinen Makel braucht, der sie betont. Joli wollte das Bild sehen. »Es ist bestimmt ganz toll«, sagte sie. Ich erzählte ihr von meinem Heft und auch von dem Brief, den ich an Herrn Sefardi schreiben musste. »Das kostet mich bestimmt einen halben Tag«, sagte ich.
Joli kniff ein Eselsohr in ihr Buch und klappte es zu. »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Gib mir ein Blatt und ich schreibe den Brief für dich. Du musst ihn dann nur noch mit deiner Schrift abschreiben, damit es nicht rauskommt.«
Ich ging zu meiner Schultasche, um eine Seite aus einem Heft zu reißen, und plötzlich sah ich, dass die schwarze Schatulle mit meinen Stiften und Kreiden nicht mehr da war. Sie war einfach nicht da, nicht im ersten Fach und nicht im zweiten. Es ist eine ziemlich große Schachtel, sie kann in einer Schultasche nicht einfach verloren gehen. Trotzdem drehte ich die Tasche über dem Tisch um und alles fiel heraus, sogar das Pausenbrot, das ich nicht gegessen hatte. Ich schüttelte die Tasche so lange, bis auch das letzte Kaugummipapier und die letzte abgefahrene Streifenkarte herausgefallen war, auch noch ein paar kleine Geldstücke und eine zerknitterte Karte von Michael Jordan und ein Schlüssel, den ich schon lange gesucht hatte. Aber die Schatulle mit den Stiften war nicht da.
Joli schaute mir zu, ohne ein Wort zu sagen. Sie kannte die Schatulle, ich hatte sie ihr an dem Tag gezeigt, als ich sie bekommen hatte. Ich hatte sie all meinen Freunden gezeigt.
»Vielleicht hast du sie zu Hause vergessen«, sagte Joli. Aber ich hatte die Stifte ja in der Englischstunde benutzt. Und ich erinnerte mich genau, dass ich die Schatulle in die Tasche gesteckt hatte, bevor ich aus dem Klassenzimmer gegangen war.
Joli stand auf und half mir beim Suchen. Wir schauten in allen Tischen nach, wir kontrollierten jede Ecke des Bodens, den Lehrertisch. Ich wühlte sogar den Papierkorb durch. Aber wir fanden nichts. Im ersten Augenblick, als ich entdeckt hatte, dass die Schatulle fehlte, war ich erschrocken. Dann wurde ich wütend und nach dem Suchen war mir auf einmal schlecht, wirklich schlecht. Ich
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