Die schwarze Schatulle
versuche sie, sich an etwas zu erinnern. Dann sagte sie, ich solle draußen warten, sie müsse vorher noch etwas erledigen. Ich wusste gleich, dass das ein Teil ihrer Erziehungsmethode ist, denn sie fügte prompt hinzu: »Inzwischen hast du Zeit, darüber nachzudenken, was du heute gemacht hast.«
Ich wusste aber nicht, über was ich, ihrer Meinung nach, nachdenken sollte. Ob überhaupt aufgefallen war, dass ich Mathe geschwänzt hatte. Ich setzte mich auf die Bank neben der Tür und dachte an gar nichts, außer dass die ganze Klasse jetzt zum Sportunterricht gegangen war und ich ausgerechnet diese Stunde verpasste. Nach einiger Zeit, als schon alle Klassentüren zu waren und die Unterrichtsstille herrschte, rief sie mich.
Wenn Erwachsene, zum Beispiel Lehrer oder auch Eltern, sagen, du sollst dich hinsetzen und ihnen mal alles erzählen, hält man am besten den Mund. Wenn man nichts sagt und geduldig wartet, fangen sie selbst an zu reden und man kann herausbekommen, was sie wollen. Wenn man genügend Geduld aufbringt, kriegen sie auch nichts raus, was sie nicht schon gewusst haben. Dafür braucht man allerdings sehr viel Geduld, denn sie fragen und reden und warten und schauen einen an, und manchmal ist es so still im Zimmer, dass man große Lust bekommt, ihnen zu antworten, nur um diese lästige Stimme loszuwerden, die dauernd fragt, warum man etwas so und nicht anders gemacht hat. Schließlich weiß man es manchmal selber nicht.
Ich kann nicht erklären, warum ich eine Karikatur von Herrn Sefardi mit seinem erhobenen Finger gezeichnet habe und warum ich das mitten im Unterricht tat. Ich hätte nur sagen können, dass man in Englisch sowieso nichts lernt und es daher schade um die Zeit ist. Aber so etwas will eine Direktorin nicht hören. Sie will eigentlich überhaupt keine direkte Antwort auf ihre Fragen.
Ich saß ihr also an ihrem Schreibtisch gegenüber und nach einer Sekunde Stille fing sie schon an zu reden. »Kannst du mir das vielleicht erklären?«, fragte sie und deutete auf das Porträt von Herrn Sefardi in meinem Heft. Ich senkte die Augen, dann schaute ich zur Seite und betrachtete all die Auszeichnungen für Sport, die dort an der Wand hingen, und die Reliefkarte von Israel, die zwei Grenzen hat, eine in einem leuchtenden Grün, die andere in Lila.
Nachdem ich eine Weile geschwiegen hatte, fing sie wieder selbst an zu reden. Mein Malheft lag zwischen uns auf dem Tisch und sie fragte: »Schabi, wie kann ein so erwachsener Junge wie du, der doch mit gutem Beispiel vorangehen müsste, so grausam zu seinen Mitmenschen sein?«
Das war für mich das Zeichen, dass die Befragung bald vorbei sein würde, denn Rachel, die Direktorin, liebt es, solche Gespräche mit einem Hinweis auf Verantwortung und Rücksichtnahme zu beenden. Sie wusste noch nicht, dass ich Mathe geschwänzt hatte, das war klar, ich brauchte ihr also nicht zu erklären, wo ich gewesen war. Sie fragte auch nichts über Benji und warum er aus der Schule weggelaufen war, deshalb beruhigte ich mich. Als Uri gesagt hatte, ich würde Ärger bekommen, war ich sicher, dass es etwas mit Benji zu tun hätte. Vielleicht hatte er etwas Fürchterliches angestellt. Und wenn nicht wegen Benji, dann wegen der geschwänzten Stunde. Ich hatte sogar überlegt, ob sie schon meine Mutter bei der Arbeit angerufen hatte.
Ich wartete darauf, dass die Direktorin das sagen würde, was sie am Ende solcher Gespräche immer sagt: »Bei manchen Dingen kann man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.« Sollte sie mir doch schon meine Strafe geben, damit ich in die Klasse zurückgehen konnte. Aber sie war noch nicht fertig damit, wie schwer ich sie enttäuscht habe und wie schade es sei, dass ein begabter Mensch wie ich sein Talent ausnütze, um andere zu verspotten. Ich sollte zur Strafe einen Entschuldigungsbrief an Herrn Sefardi schreiben, auf Englisch, und ihm erklären, ich hätte eingesehen, dass man seine Talente nicht missbrauchen darf.
Als ich den Urteilsspruch gehört hatte, stand ich auf. Das Heft lag noch aufgeschlagen auf dem Tisch, fast hätte ich die Hand ausgestreckt und es genommen, aber die Direktorin legte ihre Fingerspitzen darauf und sagte: »Das bleibt bei mir, du hast keinen Grund, stolz darauf zu sein.« Als sie das Heft in ihre Schreibtischschublade schob, konnte ich noch einen letzten Blick auf das Porträt meines Englischlehrers werfen. Dann sagte sie noch einmal: »Bei manchen Dingen kann man nicht einfach zur Tagesordnung
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