Die schwarze Schatulle
erlaubt nie, dass ich mir im Fernsehen Filme anschaue, in denen Kinder von ihren Eltern misshandelt werden. Sie ist auch nicht bereit, mit mir über solche Themen zu reden. Trotzdem weiß ich, dass es so etwas auf der Welt gibt, sogar in unserem eigenen Viertel. Manchmal kann man nachts Geschrei aus der Wohnung der Awichails hören und manchmal sieht man Meron Awichail auch draußen auf der Treppe sitzen. Ich weiß dann, dass ihr Vater sie verprügelt hat und dass sie nicht hinein darf. Aber von ihnen weiß man, dass sie eine schwierige Familie sind. Ihr Vater arbeitet nicht und trinkt den ganzen Arrak und bekommt Krisen. Wenn man von Anfang an weiß, dass etwas nicht in Ordnung ist, ist es weniger schlimm, glaube ich, als wenn alles gut aussieht und in Wirklichkeit sehr schlecht ist.
Ich erschrak so sehr über meine eigenen Gedanken, dass ich noch einmal zum Haus hinaufschaute. Es schien auf einmal noch viel weiter entfernt zu sein. Die Sonne hatte sich schon weiterbewegt, und die Fensterscheiben blendeten nicht mehr. Kein Gesicht war zu sehen. Ich überlegte, was ich tun könnte, aber mir fiel absolut nichts ein. Ich wartete also weiter auf den Bus und hoffte, Benji würde plötzlich auftauchen und die ganze Sache würde sich klären. Aber niemand kam. Noch nicht mal eine Katze.
Der Bus bog um die Ecke, ich hörte ihn, noch bevor ich ihn sah. Ein letztes Mal hob ich den Blick zu den Fenstern und sah, dass jemand blinkte, wie wenn man einen Spiegel in die Sonne hält. Das war bestimmt Benji, der aus seinem Zimmer blinkte. Ich wusste nur nicht, ob der Mann mich angelogen hatte oder ob er wirklich nicht gewusst hatte, dass Benji zu Hause war. Eine Sache war mir aber klar, nämlich dass es dort in dem Haus niemand anderen gab, der mit einem Spiegel spielen und mich blenden würde. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich zurückgehen und Benji selbst suchen sollte, aber der Bus hielt schon und der Fahrer machte die Tür auf. Die offene Tür traf die Entscheidung für mich.
3. Kapitel
Ich fuhr zurück zur Schule und kam gerade rechtzeitig zur zweiten großen Pause an. Im Flur traf ich Uri. Die Mädchen nennen ihn Uri-Buri. Ich nannte ihn gar nicht beim Namen, denn er kam gleich auf mich zugerannt und stieß die andern aus unserer Klasse zur Seite, die auf dem Weg zum Umkleideraum waren, weil wir als Nächstes Sport hatten. Beim Reden hüpfte Uri auf und ab wie ein Fisch, der nach Luft schnappt, und sagte: »Wo hast du gesteckt, wo hast du gesteckt, du kriegst Ärger, du kriegst Ärger.« Manchmal sagt Uri jeden Satz zweimal. Wegen dieser Wiederholung und der Hüpferei hätte man denken können, er wäre schadenfroh gewesen. Aber wer Uri kennt, weiß, dass er nur hüpft, um größer auszusehen. Er hat einfach das Gefühl, wenn er die ganze Zeit rennt und hüpft und in Bewegung ist, würde man vielleicht glauben, er wäre gewachsen. Uri ist der kleinste Junge aus der Klasse und sieht aus wie elf. Er hat sogar eine Stachelfrisur, damit er ein paar Zentimeter größer aussieht. Sein größter Wunsch ist es, in die Basketballmannschaft zu kommen. Einstweilen übe ich manchmal mit ihm, aber Jo’el, unser Trainer, sagt immer, er muss noch wachsen. Egal, ob er schon gut werfen könne, ohne die richtige Größe gibt’s keinen Basketballspieler. So redet Jo’el.
Wenn Uri alles zweimal sagt, ist das nur ein Zeichen dafür, dass er aufgeregt ist. Uri ist mein bester Freund. In der letzten Zeit ist er oft ein bisschen böse mit mir wegen Benji. Ich glaube, er fühlt sich zurückgesetzt, weil ich auch mit Benji Werfen übe. Aber als ich ihn mal fragte, ob Benji ihn störe, sagte er: »Wieso denn? Dieser kleine Fettwanst ist mir doch egal.« Damals hatte er sich geärgert, das wusste ich, aber jetzt, im Schulflur, machte er sich Sorgen. Rachel, die Direktorin, hatte nach mir gesucht, mich aber nirgends gefunden. Das erzählte mir Uri mit leiser Stimme. »Du sollst zu ihr gehen«, sagte er. »Dringend.«
Da war mir klar, dass ich wirklich Ärger hatte. Und obwohl ich am liebsten weggelaufen wär, ging ich geradewegs zum Zimmer der Direktorin. Ich klopfte ganz leise an die Tür, weil ich hoffte, sie würde mich nicht hören und nicht aufmachen und ich könnte einfach verschwinden. Aber sie schrie laut: »Herein.«
Ich machte die Tür auf. Die Direktorin hob den Kopf. Die Brille war ihr auf die Nase gerutscht, ihre stahlgrauen, hervorstehenden Augen schauten mich über die Gläser hinweg an und sie runzelte die Stirn, als
Weitere Kostenlose Bücher