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Die schwarze Schatulle

Die schwarze Schatulle

Titel: Die schwarze Schatulle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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noch dazu auf Englisch, würde uns nun die Geschichte von »Much ado about nothing« erzählen. Er schrieb die Wörter mit Kreide auf die Tafel und in das Quietschen der Kreide hinein sagte er, bis er mit dem Schreiben fertig sei, solle ich lieber die Klasse verlassen haben, egal, wie ich hieße, ich würde sowieso nichts lernen. »Und das da«, sagte er, drehte sich um und wedelte mit meinem Heft, das er in der anderen Hand hielt, »das da nehme ich an mich.« Er stopfte mein Heft mit allen Zeichnungen der letzten Woche in seine braune Aktentasche und klickte das Schloss zu.

    Im ersten Augenblick, als ich die Klasse verlassen hatte, sah ich Benji noch nicht. Ich sah gar nichts. Da bedauerte ich noch, dass ich mir das Heft nicht geschnappt hatte, bevor es in der braunen Aktentasche verschwand. Ich hätte es nehmen und weglaufen müssen, dachte ich, denn aus der Tasche kann ich es mir nicht mehr holen. Und eigentlich könnte man deshalb sagen, dass alles mit Michals Porträt angefangen hat, das heißt mit ihren Augenbrauen, die ich unbedingt überarbeiten musste.
    Nie weiß man, wann etwas wirklich anfängt. Oft ist das, was wie der Anfang aussieht, schon die Mitte, ohne dass man es gleich merkt, es fällt einem eben nur plötzlich auf. Später verstand ich, dass alles schon viel früher angefangen hatte, aber ich spürte es schon, als ich aus der Klasse geschickt wurde. Ich stand im Flur und wusste im ersten Moment nicht, wo ich hingehen sollte. Ich hatte keinen Basketball dabei, außerdem wusste ich, dass der Sportplatz von einer Klasse belegt war. Ich wollte auch nicht, dass mich Rachel sah, unsere Direktorin. Ich stand also da und überlegte, was ich tun könnte, als ich plötzlich Benji entdeckte, der die Treppe hinunterrannte.
    Erstens verstand ich nicht, warum er nicht in seiner Klasse war, zweitens verstand ich nicht, warum er plötzlich so rannte. Denn wenn ein Junge wie er, der ziemlich dick und vertrödelt ist (Michal nennt das verträumt), plötzlich die Treppe hinunterrennt, bedeutet es, dass etwas Ernstes passiert ist. Vielleicht sollte ich erklären, wie Benji aussieht. Er ist klein und rund wie ein Ball, mit einem winzigen Kopf voller blonder Locken, und nur wenn man ihn genauer betrachtet, fallen einem seine blauen, glänzenden Augen auf.
    Ich rief leise seinen Namen und rannte ihm nach, denn ich bin doch für ihn verantwortlich, schließlich bin ich sein Tutor. Ich helf ihm ja nicht nur bei den Hausaufgaben, sondern auch, wenn er Probleme mit den anderen Kindern hat. Beim Rennen – ich hätte auch das Geländer hinunterrutschen können, aber ich kam nicht auf die Idee – überlegte ich mir, dass er besser nichts von meinem Hinauswurf erfuhr, ich musste ihm doch ein gutes Beispiel geben. Aber er hörte und sah mich sowieso nicht oder er tat, als würde er mich nicht hören und sehen. Wie dem auch sei, er rannte weiter, so dick wie er war, wie ein kleiner Hund, der gerade erst laufen gelernt hat und dem man einen Stein nachwirft. So rannte er die drei Stockwerke hinunter, ohne auch nur einen Moment anzuhalten.
    Ich konnte seinen Namen nicht laut schreien, sonst wäre die Direktorin aus ihrem Zimmer gekommen und dann hätte ich wirklich Schwierigkeiten bekommen. Ich lief ihm also leise hinterher, bis ich ihn eingeholt hatte und an der Schulter packte. Aber er blieb nicht stehen. Ohne ein Wort zu sagen, stieß er mich weg und rannte weiter. Er rannte komisch, fast wie Mädchen rennen, die immer mit den Armen und Beinen schlenkern. Sein Verhalten verblüffte mich so sehr, dass ich nicht wusste, was ich denken sollte. Es passte überhaupt nicht zu ihm. Sonst freut er sich doch immer, wenn er mich sieht, und fängt an zu lächeln. Und jetzt plötzlich stieß er mich weg? Das hatte er noch nie getan.
    Völlig verwirrt stand ich eine Weile da und schaute ihm nach, wie er aus dem Tor rannte. Fast hätte er dafür noch den Wachmann weggeschoben, der sich von der Sonne wärmen ließ und das Tor offen gelassen hatte. »Komm her, Junge!«, schrie der, aber bis er aufgestanden war und sich die Augen gerieben hatte, war Benji schon draußen.
    Dieser Wachmann taugt nicht besonders viel. Obwohl er Fremde nicht hinein- und uns nicht hinauslässt, außer in der großen Pause, damit wir zu Esthers Kiosk können, wird in unserer Schule seit einem halben Jahr geklaut. Wir können noch nicht mal unsere Schultaschen unbeaufsichtigt in der Klasse lassen, wenn wir zum Sportunterricht gehen. Wozu steht er denn dann am Tor?

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