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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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    Ich blickte unwillkürlich zu dem betrunkenen Alten bei der Galgenkonstruktion hinüber, in dessen Händen der sichere Abstieg der Engel aus den Wolken lag. Aus seiner Richtung ertönte seliges Schnarchen. Noch während ich mich fragte, wie lange der Obstverkäufer über sein Einverständnis nachgedacht hatte, begann eine Trompete zu plärren, und die Menge auf dem campo applaudierte.
    Der Anführer der Schauspieler ließ sie eine ganze Weile klatschen, dann kletterte er auf die Bühne und lieferte einen langen, gestenreichen Monolog, den uns Marco Manfridus hastig als die Lebensgeschichte des heiligen Markus bis zu jenem Tag schilderte, an dem er nach Alexandria zurückkehrte und das Martyrium erleiden durfte. Der Monolog erntete einige Zwischenrufe, sich zu beeilen, und mageren Beifall.
    Sankt Markus trat danach mit pompöser Gebärde und einem Pilgerstab auf, umarmte seine kleine Schar von Gläubigen und einen hölzernen Pilaster, der seine Kirche darstellen sollte, um alsbald von zwei fantasievoll gekleideten heidnischen Priestern heimgesucht und mit Schimpfworten belegt zu werden. Nach einer Weile riss dem Heiligen der Geduldsfaden, und er zerbrach seinen Pilgerstab auf dem Kopf eines der Heiden, was zu einem Beifallssturm des Publikums und auf der Bühne zu San Marcos unverzüglicher Verhaftung führte. Unter dem Johlen der als Alexandriner verkleideten Schauspieler und den empörten Protesten des Publikums warf man ein Seil um seinen Hals und schleppte ihn hinter eine hölzerne Stellwand. Als man wieder hervorkam, hatte der Schauspieler seinen Platz mit einer Puppe getauscht, die wild auf der Bühne umhergeschleudert wurde und Mengen roter Flüssigkeit von sich gab, getreu der Legende, nach der Sankt Markus durch die Stadt geschleift wurde, bis »sein Fleisch auf der Erde hängen blieb«. Die heidnischen Priester und ihr Gefolge sangen dazu, das Publikum reckte die Fäuste und bedrohte die Folterknechte, und ich beobachtete, wie der Alte an dem Galgen von einem kleinen Jungen geweckt wurde und sich schwankend aufrichtete, um sein Gerät zu bedienen.
    Zuerst kurbelte er den Arm des Galgens in die falsche Richtung, über das Publikum hinweg, was niemandem auffiel, da die Engel noch nicht daran hingen und die Hohepriester sich soeben anschickten, Sankt Markus mit viel Brimborium in den Kerker zu werfen. Selbst das herzhafte Rülpsen des Alten ging im allgemeinen Tumult unter. Dann schaffte er es doch, den Galgen über den Bühnenaufbau hinweg zu manövrieren und die Seile abzurollen. Offensichtlich warteten die Himmelsboten im Hintergrund auf ihren akrobatischen Einsatz. Die Hohepriester hatten es endlich vollbracht, die Puppe in hohem Bogen hinter eine weitere Stellwand zu werfen, das Publikum buhte sie aus; der erste Akt war zu Ende. Das Publikum unterhielt sich aufgeregt über das Gesehene, die Schauspieler schoben ein paar Stellwände hin und her, und ich sah dem Alten zu, der die Seile abgerollt hatte und im Stehen einschlief.
    Der zweite Akt begann mit dem mittlerweile in das blutige Hemd der Puppe gekleideten Heiligen, der sich die Hände an einem Kohlebecken wärmte und laut sein Schicksal pries, unter all den Qualen für die Sache des Herrn zu sterben. Am Ende seines Lamentos blickte er erwartungsvoll nach oben. Doch nichts geschah. Selbst meine mit der Sprache nicht vertrauten Ohren hörten, dass er nach einer kleinen Pause mit deutlich gesteigerter Leidenschaft und einem besorgten Gesichtsausdruck wieder von vorn begann. Kurz darauf schoss der kleine Junge unter der Bühne hervor und rüttelte den Alten ein zweites Mal wach. Der begann sofort zu kurbeln, und wenige Augenblicke später tauchten die beiden Engel am oberen Rand des Bühnenhimmels auf. Beide trugen jetzt das lange Hemd sowie die Strohperücke und hatten sich kleine Flügel auf den Rücken geschnallt. Der Obstverkäuferengel klammerte sich außerdem an ein mächtiges Holzschwert; seine Rolle war offensichtlich die des Erzengels Michael. Das Mädchen hatte keine weiteren Attribute seiner Identität aufzuweisen; dafür drehte es sich mit einiger Geschwindigkeit um sich selbst und brachte den gesamten Galgen zum Schwanken, und der ebenso schwankende Alte am Fuß der Konstruktion versuchte so angestrengt wie erfolglos, seinen Fehler zu berichtigen und die Flugbahn des Engels zu stabilisieren. Sankt Markus unterbrach sein Leiden kurz, um nach oben zu schauen; seine Augen weiteten sich, er trat einen Schritt zurück und begann

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