Die schwarzen Wasser von San Marco
an mich. »Was tun Sie hier?«
»Ich habe vor, mich am Martyrium des heiligen Markus zu ergötzen. Was bedeutete dieser Auftritt eben?«
Die Aufmerksamkeit der Umstehenden hatte sich inzwischen auf uns verlagert, doch Calendar tat weiterhin, als würde er es nicht bemerken. »Sie sind immer dort, wo Sie nicht hingehören.«
»Der Kerl mit dem Lederharnisch schien Sie zu kennen. Warum haben Sie ihm nicht geholfen? Der Dicke hat doch mit dem Streit begonnen.«
»Der ›Kerl‹ ist Barberro, der Sklavenhändler«, erwiderte Calendar und vermied dabei jede Betonung.
Ich sah zu dem Jungen hinüber, der zerknirscht dastand, während der dicke Mann ihm eine Standpauke hielt. Ganz offensichtlich handelte es sich bei dem Dicken um den Anführer der Schauspieler. Die Münzen aus der Börse, die die Nächststehenden mittlerweile eingesteckt hatten, waren offensichtlich ein Kaufangebot des Sklavenhändlers gewesen. Jana machte ein verächtliches Geräusch.
»Hat es sich geklärt, ob der Tote aus dem Arsenal Pegno Dandolo war?«, fragte ich.
»Ich dachte, Sie haben mit der Sache nichts zu tun.«
»Der Junge tut mir Leid.«
»Passen Sie auf Ihre Börse auf«, sagte Calendar und schob sich durch die Zuschauer. Ich sah ihm hinterher; er ging in dieselbe Richtung wie Barberro.
Als die Zuschauer beiseite traten, sah ich zwei Gassenjungen, die Calendar scheinbar im Weg standen. Einer davon war der Zeuge von gestern in seinem Lederwams, das wie eine armselige Karikatur von Barberros Kleidung wirkte. Sie wichen hastig zurück, traten den hinter ihnen Stehenden dabei auf die Füße, was ihnen zahlreiche Knüffe einbrachte. Sie senkten die Köpfe, bis Calendar an ihnen vorüber war, dann verfolgten sie seinen Weg mit einem vorsichtigen Augenaufschlag bis zu mir zurück. Erst als der eine der beiden mir zunickte und mir sein zahnlückiges Grinsen schenkte, erkannte ich ihn. Es war der Junge, den ich beim Taschendiebstahl ertappt und laufen gelassen hatte. Ich wollte ihm eine Münze zuwerfen, doch er stand zu weit entfernt, und so nickte ich lediglich zurück. Erst dann fiel mir auf, dass sich kein einziger der jungen Schnapphähne in unsere Nähe gewagt hatte. Der Junge hatte wahrscheinlich seine Kameraden gewarnt, die Finger von mir zu lassen. Für heute war ich verbotenes Terrain. Verlorener kleiner Dreckspatz, der er war, zahlte er doch seine Schuld zurück. Ich hob die Hand, um ihm zuzuwinken, aber die Menge hatte ihn und seinen Kameraden bereits verschluckt.
»Wer war der Kerl mit dem grauen Haar?«, erkundigte sich Jana.
»Ein Polizist, den ich gestern kennen gelernt habe: milite Calendar.«
»Ein düsterer Mann …«
»Manfridus hat mir erzählt, dass die Polizei hier nicht sehr beliebt ist. Kein Wunder; zumindest dieser Calendar benimmt sich übler als ein Zwingvogt.«
»Das finde ich nicht. Er wirkt abweisend, aber nicht böse.«
»Tatsächlich? Was veranlasst dich zu dieser Meinung?«
»Erfahrung«, sagte sie nur halb spöttisch. »Du warst ebenso, als ich dir zum ersten Mal begegnete.«
»Da gibt es schon wieder eine Schwierigkeit«, rief Marco Manfridus begeistert und deutete zur Bühne.
Ein zierliches Mädchen, das eine Strohperücke auf dem Kopf trug, redete mit Händen und Füßen auf einen mageren jungen Mann in schäbigen Kleidern ein. Das Mädchen trug ein langes leinenes Hemd, und es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass es nicht das Opfer einer Hinrichtung darstellen sollte, sondern einen blond gelockten Engel. Der junge Mann trug einen Sack auf dem Rücken, und wer immer er auch war, er gehörte keinesfalls zu den Schauspielern. Ich wusste nicht, was der strohhaarige Engel dem jungen Mann zu erklären versucht hatte, doch es bewegte ihn dazu, dem Mädchen unter die Bühne zu folgen. Meine allzeit auf die Schlechtigkeit der Menschen trainierten Sinne erwarteten, dass sogleich ein paar Bahnen Leinwand herabgezogen würden, um dem Engel und dem jungen Mann ein paar Augenblicke ungestörten irdischen Genusses zu verschaffen, aber er wurde lediglich dem Anführer der Schauspieler vorgestellt.
Marco Manfridus erklärte: »Es gibt zwei Erzengel in dem Spiel. Sie kommen zu San Marco in den Kerker und verkünden ihm die Ankunft unseres Herrn Jesus. Einer der Engel ist das Mädchen mit der Strohperücke; der andere liegt da drüben unter der Decke. Er schläft nicht, er ist krank.« Marco Manfridus zuckte mit den Schultern. »Der Obstverkäufer hat sich überreden lassen, seine Rolle zu
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