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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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HERR , verdeckt in der Rauchwolke, auf der Bühne erscheinen sollte. Die beiden Muskelmänner unter der Bühne, die davon nichts ahnten, mühten sich nach Kräften, den Erlöser nach oben zu kurbeln. Als der Erzengel in einem Wirbel aus Federn und mit einem entsetzten Quietschen emporschwang, gab die Falltür nach, und die Plattform schnellte nach oben. Den Zuschauern wurde das seltene Erlebnis zuteil, dass der HERR Jesus Christus wie ein Schachtelteufel aus dem Bühnenboden sprang und mit weit aufgerissenen Augen über das Kohlebecken und in die erste Reihe der Zuschauer flog, wo er lauthals und unmenschlich zu fluchen begann. Der Alte ließ das Seil, an dem der Erzengel hing, fahren und widmete sich der Rettung des Mädchens, wodurch Michael, ebenso schnell wie er abgehoben war, wieder in Richtung Boden fiel, durch die Falltür stürzte und diese hinter sich zuschlug. Der Knall setzte den Schlusspunkt, und es wurde still. Selbst der Erlöser stellte sein Fluchen ein. In die Stille flatterte das zerrissene Hemd des zweiten Engels herab und legte sich tröstend auf den vor Scham erstarrten Märtyrer.

2
    Etwas flog durch die Luft und zerplatzte auf der Bühne: faules Obst. Dicht gefolgt von einem faustgroßen Stein, der dumpf polternd auf die Bretter schlug. Der heilige Markus lugte erschrocken unter dem Leinenfetzen hervor; auch das hätte amüsant gewirkt, aber ich musste lediglich in die Gesichter um uns herum blicken, um zu wissen, dass die Zeit für Komik vorbei war. Die Menge fühlte sich auf den Arm genommen. Nach den ersten beiden Würfen geschah für einige Augenblicke nichts – die Meute wartete auf einen, der den Leithammel spielen wollte. Der beleibte Anführer der Schauspieler begann auf allen vieren die Treppe hochzuklettern, doch er war so langsam wie eine Kröte.
    Zwei unaufdringlich elegant gekleidete Männer schwangen sich scheinbar mühelos auf die Bühne und stellten sich vor den Heiligendarsteller, der erschrocken auf dem Boden kauern geblieben war. Gleichzeitig sprang ein weiterer, noch prächtiger gekleideter Mann die Treppe hoch, stieß den Anführer der Gaukler beiseite und stellte sich zwischen die beiden ersten Männer. Er war ein gutes Stück kleiner als die beiden und wirkte dennoch am beeindruckendsten. Die Menge zögerte noch ein paar Augenblicke länger; der Mann hob beide Arme wie ein Priester am Beginn der Wandlung,
    »Das ist Leonardo Falier!«, stieß Marco Manfridus hervor, und zur Verblüffung aller begann der Mann auf der Bühne herzhaft zu lachen.
    Die Menge erkannte, dass sich nun einer unverhofft der Rolle des Leithammels angenommen hatte, und er schien nicht vorzuhaben, die Schauspieler zu bestrafen. Sie lachte mit. Falier klatschte in die Hände; Applaus für die Schauspieler erhob sich. Der Anführer der Gaukler stand ungläubig auf der Treppe und machte ein Gesicht, als habe sich soeben wirklich ein Engel aus den Wolken herabgeschwungen. Einer der beiden Begleiter Faliers, die nur seine Leibwächter sein konnten, bückte sich auf einen Wink seines Herrn und zog den Darsteller des heiligen Markus in die Höhe. Falier schüttelte ihm die Hand, der Applaus brandete noch stärker auf, und als er sich gar dazu verstieg, seine kurze, über eine Schulter gehängte Schaube abzunehmen und sie mit elegantem Schwung über das Büßergewand des Heiligendarstellers zu werfen, als wolle er dessen Blöße bedecken, stieg Jubel aus der Menge auf. Die Schaube war mit dem gleichen Familienwappen wie das Sacktuch des Bühnenvorhangs verziert und kam vermutlich nicht ganz zufällig so auf den Schultern des Schauspielers zu liegen, dass es deutlich zu erkennen war. Ich wusste jetzt wieder, wo ich es – ähnlich aufdringlich zur Schau gestellt – schon gesehen hatte: gestern auf dem Canale di San Marco, quer über eine Reihe von Gondeln gespannt und von Trommelschlägen begleitet.
    »Wer ist Leonardo Falier?«, fragte ich den jungen Manfridus, der begeistert mitklatschte.
    »Ein Mitglied des Zehnerrats.«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    »Der Erhabene Consiglio di Dieci ist für Hochverrat, Korruption und Sodomie zuständig«, erklärte Marco Manfridus mit lauter Stimme, um sich gegen den Lärm um uns herum durchzusetzen, und ich staunte für einen Moment, dass ihm das Wort Sodomie ohne Stocken über die Lippen gekommen war. Er war ein aufgeweckter Kerl, aber es gab Dinge, die ihm noch ein Geheimnis hätten sein sollen. »Man hat ihn vor langer Zeit gegründet, als Baiamonte Tiepolo im

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