Die schwarzen Wasser von San Marco
hastig weiter zu lamentieren. Sein Nacken versteifte sich sichtbar. Nicht nur ich schien den baldigen unsanften Aufprall eines Engels auf dem Kerkerboden zu erwarten.
Der Erzengel Michael beendete seinen Abstieg zur Erde ohne Komplikationen. Der junge Obstverkäufer war offensichtlich steif vor Angst und nicht schwerer abzuseilen als ein Stück Holz. Er stand ungelenk da, ließ sein Schwert fallen, bückte sich hastig danach, was das straffe Seil nicht zuließ, verlor den Boden unter den Füßen und schwebte schreckensbleich in Hüfthöhe durch den Kerker.
Der Alte, der derweil noch immer versuchte, auch den zweiten Engel durch die Wolken bis auf den Boden zu bringen, bemerkte nichts von Michaels Not und gab kein Stückchen Seil nach. Falls der Erzengel einen Text hatte, hatte er ihn vergessen. Er trudelte langsam durch den Kerker und wirkte, als müsse er sich jeden Moment übergeben. Sankt Markus beendete den zweiten Durchgang seines Lamentos und schien zu überlegen, ob eine dritte Version angebracht sei. Endlich fand der Obstverkäufer sein Gleichgewicht wieder und stellte die Beine auf den Boden, sein Schwert unerreichbar vor seinen Füßen.
Dann landete der erste Teil des anderen Engels auf dem Boden: die Strohperücke. Sankt Markus sah überrascht nach oben; selbst Michaels Blicke wurden von seinem Schwert abgelenkt, und den Augen der beiden Schauspieler folgte das gesamte Publikum.
Das lange Hemd des zweiten Engels hatte sich am oberen Rand einer Wolke verfangen. Der Alte, zu sehr damit beschäftigt, sich aufrecht zu halten, hatte nichts davon mitbekommen und weitergekurbelt. Die Wolke war groß genug, um das Mädchen dahinter zu verbergen, und so war über dem Wolkenrand nur der Hemdzipfel zu sehen sowie zwei Engelshände, die sich verzweifelt an einer anderen Wolke festklammerten, um nicht weiter nach unten gesenkt und dadurch vollends ausgezogen zu werden. Unterhalb der Wolke baumelten in einem Federngestöber aus sich auflösenden Engelsflügeln zwei bloße Füße.
Sankt Markus schlug die Hände vors Gesicht und fiel dann vor dem Erzengel auf die Knie, sichtlich im Bestreben, das Spiel fortzuführen und das Publikum von der Katastrophe abzulenken, die sich in den Wolken ereignete. Michael reagierte nicht auf die Demutsgeste und gaffte stattdessen mit weit offenem Mund nach oben. Nicht schwer zu erraten, welcher Anblick ihm geboten wurde, denn unter seinem Hemd regte es sich ganz unengelhaft, und ein zweites Schwert schien dem Erzengel zu erwachsen als Ersatz für das, welches ihm bei der Landung abhanden gekommen war. Sankt Markus blieb der Anblick eines Erzengels, der aus den Wolken zu ihm in den Kerker herabstieg und dort eine Erektion bekam, erspart; er hielt den Kopf gesenkt und hoffte darauf, dass der Obstverkäufer sich wieder auf seinen Text besann.
Als das nicht geschah, zupfte er ihn an seinem Hemd und zischte ihm etwas zu. Die Blicke des Erzengels wurden zu Boden geleitet, und mit dem Anblick des kauernden Märtyrers erwachte schlagartig die Erinnerung an seine Pflicht. Er riss den Mund auf und kreischte: »Ecco, il REDENTORE !«
Dann geschah alles zugleich: Das Hemd des in den Wolken feststeckenden Engels riss mit einem lauten Ratsch; der Alte sah nach oben und rülpste erschüttert; die Wolke, an der sich das Mädchen festklammerte, begann sich zu neigen; und der Mann hinter der Bühne gehorchte seinem Stichwort und leerte die Schale, deren Inhalt regiegemäß in das Kohlebecken fiel und dort zu einer Stichflamme wurde, die eine gewaltige weiße Rauchwolke entfachte.
Allein der auf diese Weise angekündigte Erlöser kam nicht.
Die Rauchwolke verzog sich. Der Erzengel hatte offensichtlich zu nahe am Kohlebecken gestanden und hatte versengtes Strohhaar und ein rußgeschwärztes Gesicht. Seine Erektion war mittlerweile vollends abgeklungen. Er sah sich verwirrt um, begegnete dem wütenden Blick des heiligen Markus, erschauerte und quiekte pflichtbewusst ein zweites Mal: »Ecco, il REDENTORE !«
Die Wolke gab ein bedrohliches Knarren von sich, gefolgt von einem verzweifelten Aufschrei des sich an sie um sein Leben klammernden Engels. Der Alte erkannte endlich, was zu tun war, und begann das Seil wieder aufzurollen. Er erwischte das falsche und holte den Erzengel Michael mit einem Ruck von den Füßen, der einem startenden Falken alle Ehre gemacht hätte.
Hinterher ließ sich nur noch vage nachvollziehen, was geschehen war. Der Obstverkäufer war auf der Falltür gelandet, durch die der
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