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Die schweigenden Kanäle

Die schweigenden Kanäle

Titel: Die schweigenden Kanäle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Berwaldt bohrte das Loch etwas größer. Er sah einen winzigen Fleck eines sternenreichen Nachthimmels und spürte das Eindringen frischer Luft mit dem Wohlgefühl und der zitternden Lebenslust, die ein Erstickender erlebt, wenn er wieder durchatmen kann.
    Dr. Berwaldt hielt mit dem Vergrößern des Loches ein. Es war unmöglich, es so zu erweitern, daß er hinaus auf das Dach klettern konnte. Außerdem war es sinnlos, denn niemand wußte, wie das Dach beschaffen war, ob es abfiel, ob es Halt bot. Nur eines wußte er, daß der Palazzo zu hoch war, um hinunterzuspringen in den Canale Santa Anna. Aber ein Zeichen konnte man geben, und wenn man Glück hatte, wurde es aufgenommen.
    Dr. Berwaldt nahm sein Taschentuch heraus und schrieb mit Tinte groß darauf:
    »Ich bin im Palazzo Barbarino bei Cravelli. Auf dem Boden eingesperrt. Kommt sofort. Berwaldt.« Er schrieb es in deutscher und in italienischer Sprache.
    Dann kletterte er wieder auf den Stuhl und zwängte das Taschentuch durch das kleine Loch. Mit einer Sonde stieß er es durch das Dach und schüttelte es dann ab. Ein Windhauch trieb das Taschentuch weg, über das Dach, wirbelte es über die Stirnmauer des Palazzo und wehte es hinunter in den Canale Santa Anna.
    Dr. Berwaldt konnte es nur ahnen. Er spürte an der Sonde, wie das Taschentuch wegflog.
    »Viel Glück!« sagte er zu sich selbst. »Irgend jemand wird es finden und zur Polizei bringen –«
    Er räumte den wenigen Schutt weg, kehrte alles zusammen, rannte zurück in den OP, rührte etwas Gips an und verschmierte das Loch in der Decke. Niemand, der nicht genau die Decke ansah, konnte noch die Stelle entdecken, an der der Durchbruch in die Freiheit gelungen war.
    Das Taschentuch flatterte in das dunkle Wasser. Einer der wachhabenden Bettler sah es … er sprang in den Kahn und ruderte, fischte das Tuch heraus. Verwundert drehte er es in den Fingern, drückte das Wasser aus und verschmierte damit die Tintenschrift völlig. Die Botschaft Dr. Berwaldts wurde unleserlich, ein großer, ineinander verlaufender Tintenklecks.
    Alles ist wichtig, was vor Cravellis Haus geschieht, hatte Roberto Taccio seiner Mannschaft gesagt. Also auch ein durch die Luft flatterndes Taschentuch! Der Bettler legte sich in die Ruder und glitt in schneller Fahrt zum Canale Grande davon.
    Sergio Cravelli war noch nicht zu Bett gegangen. Die Erregung der vergangenen Stunden lebte noch in ihm und verhinderte die Ruhe. Er ging in seiner riesigen Bibliothek hin und her, stand am Fenster und starrte hinaus auf den schwarzen Kanal, trank zwei Kognaks und spielte mit dem großen Globus, den er um die Achse rotieren ließ, um ihn dann wieder anzuhalten und nachzusehen, auf welchem Land sein Finger lag. Das Spiel eines Diktators, dem die Welt gehört. Er war wütend. Seine Voreiligkeit hatte ihn weit zurückgeworfen. Ein Mensch, der zu spät kommt, braucht sich keine Vorwürfe zu machen, er erkennt seine Schuld. Aber zu früh zu kommen und alles zu zerstören, ist eine Tragik, die das Herz aufreißen kann. So wütete Cravelli gegen sich selbst, ohne einen Ausweg zu finden, wie er seine Voreiligkeit wieder rückgängig machen sollte. Als er in einer wilden Verzweiflung den Hoteldirektor Barnese niederschlug, um an den Tresorschlüssel zu kommen, wußte er bereits, daß fast alles verloren war. Aus dem Dunkel geheimer Macht war er übergegangen zur brutalen Gewalt … Aber ihm blieb keine andere Wahl … es war ein Verzweiflungsschritt.
    Nun gab es nur noch drei Möglichkeiten: Ilse Wagner mußte in seine Macht kommen. Es war leicht, den Mut eines Mädchens zu brechen. Oder Dr. Berwaldt ließ sich durch das Schicksal der siebenjährigen Claretta rühren und brach zusammen. Oder – die letzte Möglichkeit, an die Cravelli mit Schaudern dachte – Dr. Berwaldt mußte sterben wie Patrickson und Dacore, der Traum von der Weltherrschaft wurde mit ihnen begraben, und das Leben des Grundstücksmaklers Cravelli lief weiter wie bisher … geachtet, still, zurückgezogen, ein Leben im Glanz einer zauberhaften Stadt.
    Cravelli ging hinauf in sein Arbeitszimmer und setzte sich auf den Balkon. Die Bettler registrierten es und jagten einen Boten zu Taccio: Er sitzt wieder. Wir werden wieder musizieren und singen.
    Auf dem Balkon wickelte sich Cravelli in eine Wolldecke. Es war eine schwülwarme Nacht, aber er fror trotzdem, als sei sein Blut kalt geworden. So saß er in der Dunkelheit, starrte gegen die gegenüberliegende Hauswand, hörte das Plätschern des

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