Die schweigenden Kanäle
trug.
»Ich kenne Cravelli. Er wird nicht warten! Ich habe das Gefühl, daß in Venedig in diesen Stunden etwas geschehen ist.« Er stieß das Boot ab. Leise glitt es in das schwarze Wasser. Die kleine Kirche schwamm im ungewissen Nachtlicht zwischen den Büschen und Bäumen in die völlige Dunkelheit zurück. Vor ihnen lag Venedig. Ein Lichtermeer, eine Kette angestrahlter Brillanten, eine im Wasser wogende Schale aus blitzenden Edelsteinen.
Rudolf Cramer ruderte mit starken Schlägen der Stadt entgegen. Er hatte seinen Rock ausgezogen und auf den Bootsboden geworfen. Als Ilse ihn aufhob und auf den Sitz legte, fühlte sie unter ihren Fingern in der Jackentasche etwas Hartes, Längliches. Sie tastete schnell die Form ab. Ein Revolver. Schaudernd ließ sie die Jacke auf den Sitz fallen.
»Du hast einen Revolver bei dir?« sagte sie leise.
Cramer nickte. Er legte sich in die Ruder und keuchte unter den schnellen Schlägen. »Wir werden ihn bald brauchen, Liebes! Morgen werden wir Dr. Berwaldt wiederfinden …«
»Lebend –« Es war nur ein Hauch.
Cramer antwortete nicht. Sein Gesicht war jetzt hart. Sein Schweigen war Antwort genug. Schaudernd wandte sich Ilse ab und starrte Venedig entgegen. Der Zauberstadt aus Glück und Liebe … der Stadt aber auch mit den dunklen, schweigenden Kanälen, die Heimat der Ratten …
Als sie an der Anlegestelle des ›Excelsior‹ ankamen, sahen sie schon vor dem Eingang des Hotels eine große Menschenmenge stehen. Zwei Polizeiboote schaukelten vor der Holzbrücke, eine Kette Polizisten sperrte den Zugang zum ›Excelsior‹ ab. Stimmen schrien durcheinander, Arme wurden gestikulierend hochgeworfen. Es war eine helle Aufregung auf der Straße.
Mit Püffen und Stößen bahnten sich Cramer und Ilse einen Weg durch die Menschenmauer. Was man schrie, verstand man nicht. Nur einzelne Worte schnappten sie auf … »Überfall« … »niedergeschlagen« … »Vor hundert Menschen …«
Ein Polizist hielt sie auf. Cramer sagte seinen Namen. Er wurde sofort durchgelassen und rannte, Ilse an der Hand hinter sich herziehend, in die Hotelhalle.
Hier war die Aufregung gedämpfter, aber massierter. Die Gäste standen rund herum an den Wänden und unter den Palmen, drei Kommissare verhörten sie, Polizisten sperrten alle Zugänge zum Saal und zur Treppe ab. In einem Sessel, unter einer breiten Fächerpalme, saß Direktor Pietro Barnese. Er sah jammervoll aus. Um seinen schönen Römerkopf trug er einen dicken Verband, sein linkes Auge begann zuzuschwellen, obwohl er einen dicken Wattebauch mit essigsaurer Tonerde darauf drückte. Als er Cramer und Ilse Wagner sah, sprang er mit einem hellen Schrei auf.
»Signorina!« brüllte er. »Madonna mia! Da ist sie! Dieser Skandal! Dieser Skandal! Sehen Sie, wie man mich zugerichtet hat! Oh! Wir können das Haus schließen! Wir sind erledigt! Oh!« Er sank in den Sessel zurück, drückte den Wattebausch auf sein zuschwellendes Auge, und da unter seinen Fingern die essigsaure Tonerde hervortropfte, sah es aus, als weine er dicke Tränen.
Hinter der Rezeption drängten sich die Pagen und Kellner und wurden verhört. Der Hauptkommissar löste sich von einer Gruppe Gäste und kam auf Cramer zu. Ilse umklammerte die Hand Cramers, er spürte, wie sie wie im Schüttelfrost zitterte.
»Sie sind Signore Cramer?« Der Kommissar sah ihn kritisch an. »Wo waren Sie?«
»Einen Augenblick! Darf ich erst fragen, was hier geschehen ist?«
»Oh!« schrie Barnese weinerlich. »Ich wußte immer, daß mit Ihnen nicht alles stimmt!«
»Ihren Ausweis bitte!« sagte der Kommissar.
Cramer holte seinen Schweizer Paß aus der Tasche und reichte ihn aufgeklappt hin. Nach einem kurzen Blick sah der Kommissar verblüfft hoch.
»Er stimmt. Cramer –«
Barnese hob beide Hände. »Keiner kennt ihn. Es ist eine Fälschung –«
»Bitte –« Der Kommissar sah Cramer ernst an. »Wieso kennt man Sie nicht in Zürich?«
»Weil ich als Sänger anders heiße.«
»Sänger!« Barnese johlte fast auf. »Wenn er Sänger ist, heirate ich meine Großtante!«
»Meine Gratulation zu dieser Verbindung im voraus.« Cramer sagte es so ernst, daß Barnese entsetzt seinen Wattebausch sinken ließ. Sein Auge war ein einziger blauer Fleck. »Ich bin Gino Partile –«
»Wer?« Der Kommissar trat einen Schritt zurück. Barnese stöhnte auf, warf seinen Wattebausch in die Palme und sprang auf.
»Partile?« brüllte er. »Nie! Ich habe Partile gesehen und gehört!«
»Wo?« fragte
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