Die Schwestern von Rose Cottage: Melanie (German Edition)
auf, ihre Capricen auszugleichen, doch auch für ihn gab es Momente, in denen er nahe an einem Zusammenbruch war. Was hatte man seiner wunderschönen Tochter nur angetan!
Das war auch einer der Gründe, warum er sich in Irvington an der Chesapeake Bay niedergelassen hatte. Hier ging alles noch ein wenig gemächlicher zu als in einer Großstadt. Da er sich am Ort einen guten Ruf aufgebaut hatte, suchte er sich nur die Kunden aus, die verstanden, dass Jessie für ihn immer an erster Stelle kam.
„Wir müssen uns jetzt beeilen!“, bemerkte Jessie streng. Obwohl sie erst sechs Jahre alt war, konnte sie Forderungen mit der Würde einer Königin stellen. Dann senkte sie die Stimme und fügte hinzu: „Ich glaube, hier gibt es Gespenster, Daddy!“
Mike lächelte sie an. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich negativ über dieses Haus äußerte, aber dass hier Gespenster hausen sollten, war etwas völlig Neues. „Wie kommst du denn darauf, Liebling?“
„Am Fenster hat sich etwas bewegt. Ich habe es genau gesehen.“ Ihre Unterlippe bebte, und Panik stand in ihrem Blick.
„Hier lebt niemand“, beruhigte Mike sie. „Das Haus steht leer.“
„Aber es hat sich etwas bewegt“, beteuerte Jessie mit erstickter Stimme. Offensichtlich war sie den Tränen nahe. Ob sie tatsächlich etwas gesehen hatte oder nicht – ihre Angst war echt. „Wir müssen jetzt fahren.“
Mike gab Gas und fuhr weiter in Richtung Schule. Jede noch so logische Antwort hätte die Anspannung jetzt nur erhöht, und die gute Stimmung, die zwischen ihnen geherrscht hatte, wäre zerstört gewesen.
Sobald sie sich ein Stück vom Haus entfernt hatten, entspannten sich Jessies Schultern, und sie lächelte zaghaft. „Jetzt sind wir in Sicherheit“, erklärte sie erleichtert.
„Wenn du bei mir bist, bist du immer in Sicherheit“, beruhigte Mike sie.
„Ich weiß, Daddy“, erwiderte sie. „Aber ich mag dieses Haus nicht. Ich möchte nicht mehr dorthin. Nie mehr. Versprochen?“
„Wir müssen aber doch jeden Tag dort vorbeifahren“, erinnerte Mike sie.
„Aber nur ganz, ganz schnell. Okay?“
Mike seufzte und wusste, dass Widerstand zwecklos war. „Also gut.“
„Ich wünsche dir einen schönen Tag, Liebling“, sagte er ein paar Minuten später, als er Jessie vor dem Schultor absetzte. „Ich hole dich heute Nachmittag hier wieder ab.“
Er hatte früh bemerkt, dass sie immer und immer wieder bestätigt haben wollte, dass er auch ganz bestimmt zurückkehren würde. Der Psychologe, mit dem er gesprochen hatte, war der Meinung, dass Linda der Grund für Jessies Unsicherheit wäre. Jessie war von ihrer Mutter im Stich gelassen worden, und das war nicht ohne Auswirkung auf ihr junges Leben geblieben. Mike hatte sich schon früher des Öfteren gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn man ihr erklärt hätte, ihre Mutter sei bei der Geburt gestorben. Aber er hätte diese Worte nie über seine Lippen gebracht. Vielleicht hatte er insgeheim gehofft, dass Linda ihr Leben doch noch in Ordnung bringen und zu ihnen zurückkehren würde.
„Bye, Daddy!“ Jessie lief ein paar Schritte vor und drehte sich dann noch ein letztes Mal um. „Du gehst doch nicht wieder zu dem alten Haus zurück, oder? Ich will nicht, dass dieses Gespenst dich holt.“
„Mich wird kein Gespenst bekommen“, versprach Mike und zeichnete mit dem Zeigefinger ein Kreuz über sein Herz zum Beweis, dass er wirklich meinte, was er sagte. „Ich habe mich mit Gespensterabwehrspray eingesprüht.“
Jessie kicherte. „So ein Blödsinn“, lachte sie, aber die Erleichterung war ihr anzumerken. Dann winkte sie ihm kurz zu und rannte einer Freundin hinterher. Mike schaute ihr nach und wünschte sich, er könnte ihre Ängste immer so leicht vertreiben. In manchen Nächten gab es keinen Trost. In manchen Nächten hatte sie Albträume, die so schlimm waren, dass sie unfähig war, darüber zu sprechen, und sie beruhigte sich erst wieder, wenn er sie einige Zeit in seinen Armen gehalten hatte.
Als Jessie aus seinem Blickfeld verschwunden war, setzte er sich wieder hinter das Lenkrad und ging in Gedanken seine Termine für den heutigen Tag durch. Statt jedoch zu dem neu gebauten Haus an der Bay zu fahren, dessen Garten er planen sollte, fuhr er noch mal zu dem Lindsay-Haus zurück.
Hatte Jessie tatsächlich jemanden gesehen in dem Haus, das ihn von Anfang an fasziniert hatte? Oder hatte Jessie ihn einfach nur mit ihrer blühenden Fantasie angesteckt? Was immer es war, es
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