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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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    Ich lebe jetzt nicht mehr in der Stadt der Wahrheit. Ich habe mich selbst aus Veritas verbannt, aus allen Städten – aus der Welt. Der Raum, in dem ich schreibe, ist eng wie eine Gefängniszelle und feucht wie ein Lungenflügel, aber ich gewöhne mich allmählich daran, ihn als mein Zuhause zu betrachten. Meine einzige Lichtquelle ist eine Kerze, ein dicker, butterfarbener Stengel, an dem Netze aus geschmolzenem Wachs wie Spinnweben hängen. Ich überlege mir, wie es wohl wäre, in dieser Kerze zu leben – in den durchscheinenden Furchen, die die Flamme umgeben: ein angenehmes Plätzchen, warm, sicher und behaglich.
    Ich stelle mir vor, wie ich die Tage damit verbrächte, über Wachswege zu spazieren und in Paraffin-Salons zu sitzen, und in der Nacht im Bett läge und auf das ständige Tropf-tropf-tropf lauschte, mit dem mein Heim sich selbst verzehrte.
    Mein Name ist Jack Sperry, und ich bin achtunddreißig Jahre alt. Ich wurde in der Stadt der Wahrheit geboren, in Veritas, am letzten Tag ihres zweihundertsten Jahres. Wie so viele Jungen meiner Generation träumte ich davon, eines Tages Kunstkritiker zu werden: der reine, ursprüngliche Kitzel, ein Gemälde anzugreifen, das erregende Gefühl im Bauch, einen Film oder ein Gedicht zu zerreißen. In meinem Fall wurde der Traum Wirklichkeit, denn als ich zweiundzwanzig war, bekam ich eine Anstellung als Vernichter am Wittgenstein-Museum im Bezirk Platon, der Illusion gerecht werdend.
    Andere Träume – Frau, Kinder, ein glückliches Zuhause – erfüllten sich nicht so leicht. Vom ersten Tag an rangen Helen und ich mit der dornigen veritasianischen Frage, ob Liebe die der Wahrheit entsprechende Bezeichnung für das Gefühl war, das wir füreinander empfanden – dieser so häufig mißbrauchte Begriff Liebe, eine Art Lüge in einem Wort –, ein Problem, dem wir allerdings immer weniger Beachtung schenkten, als eine handfestere Krise an seine Stelle getreten war.
    Sein Sperma ist faul, dachte sie. Ihre Eier sind Blindgänger, entschied ich. Doch schließlich fanden wir den richtigen Arzt, die geeignete Pille, und plötzlich war Toby entstanden und gedieh in Helens versöhnter Gebärmutter: Toby, der Embryo; Toby, das Baby; Toby, das Kleinkind; Toby, der Tischler im Vorschulalter, der ständig schiefe Vogelhäuser, schräge Serviettenhalter und asymmetrische Bücherstützen bastelte; Toby, der jugendliche Naturfreund, der sich jedes schlangenartigen, schleimigen, widerwärtigen Geschöpfes annahm, das sich auf der Erdoberfläche wand. Es handelte sich um ein Kind mit einer Madenfarm. Einer Küchenschabenranch. Einer Schnecke als Kuscheltier.
    »Ich glaube, ich liebe ihn«, erklärte ich Helen eines Tages. »Wir wollen ihn nicht durchdrehen«, erwiderte sie.
    An jenem Morgen, als ich Martina Coventry kennenlernte, war Toby gerade im Lager Weg-mit-den-Kindern in dem unzivilisierten Randgebiet des Bezirks Kant. Er schickte uns jeden Tag eine Ansichtskarte, eine Routine, die – so ist mir rückblickend klar – eine Art Schmuggelunternehmen darstellte; wenn Toby nach Hause käme, wären all seine Postkarten schon da, damit er sie seiner Sammlung einverleiben konnte. Ein Beispiel:
     
Liebe Mom, lieber Dad!
Heute haben wir gelernt zu überleben, falls wir uns jemals im Wald verlaufen sollten – welche Baumrinden man essen kann und solche Sachen. Gruppenführer Rick sagt, er habe noch nie gehört, daß jemand diese Kenntnisse wirklich angewendet hat.
Euer Sohn Toby.
     
    Oder:
     
Liebe Mom, lieber Dad!
Es gibt hier in der Speisekammer eine große Rattenfalle, und ratet mal, wer jede Nacht hinschleicht, um zu sehen, was für ein Tier gefangen ist, und es dann zu befreien? Ich!
Gruppenführer Rick sagt, ich bin ein Spielverderber.
Euer Sohn Toby.
     
    Es war noch früh, kaum sieben Uhr morgens, doch die Bar Suff am Morgen war bis an die bröselnden Backsteinmauern vollgestopft mit Leuten. Ich bahnte mir einen Weg durch eine Mischung aus Zigarettenqualm und Biergestank, durch ehrlichen Schweiß und rechtschaffenen Mundgeruch. Aus einer Musikbox dröhnte die Gruppe Redlichkeit mit dem Song Nicht unbedingt für alle Zeit. Der Barkeeper, Jimmy Breeze, brachte mir das Übliche – ein Himbeertörtchen und eine Bloody Mary – und stellte beides auf der Theke aus rissigem Zedernholz ab. Ich sagte ihm, daß ich kein Geld dabei hätte, aber morgen bezahlen würde. Wir waren in Veritas. Ich würde zahlen.
    Ich machte einen einzigen freien Stuhl ausfindig – an

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