Zwergenbann: Roman
PROLOG
WILLENLOS
Das Scharren des Riegels an der Tür der Wohnhöhle riss Lian aus dem Schlaf. Er fuhr hoch, und augenblicklich loderte die Angst - sein unsichtbarer Begleiter, so lange er sich zurückerinnern konnte - in ihm hoch und ergriff Besitz von ihm.
Sie kamen, um ihn zu holen.
Die Angst war stets gegenwärtig, war das beherrschende Gefühl in seinem Leben. Es war, als wäre er bereits mit einem unsichtbaren Reif um seine Brust geboren, der sich von Zeit zu Zeit ein wenig lockerte, nur um sich anschließend wieder umso fester zusammenzuziehen. Früher hatte er gedacht, er würde sich irgendwann daran gewöhnen und sein Schicksal hinnehmen, aber dem war nicht so. Im Gegenteil. Je älter er wurde, desto mehr näherte er sich dem unausweichlichen Zeitpunkt, an dem es ihm wie schon so vielen anderen vor ihm ergehen würde.
Jetzt schien dieser Tag gekommen. Die Thir-Ailith würden ihn holen, er wusste es einfach; er spürte es tief in sich mit einer Bestimmtheit, die weder einen Grund erforderte noch einen Zweifel zuließ. Es gab nur zwei Anlässe, zu denen die Tür geöffnet wurde. Entweder brachte man ihnen ein paar Flechten oder etwas Moos zum Essen, doch das war bereits vor ein paar Stunden geschehen.
Oder die Thir-Ailith kamen, um eine Auswahl zu treffen, wer weiterleben durfte und wer sterben musste. Diesmal würde er zur zweiten Gruppe gehören.
Schon seit Wochen sprossen auf seinem Kinn, seinem Hals und vereinzelt auch auf seinen Wangen Härchen und bildeten
mittlerweile einen weichen Flaum; ein sicheres Zeichen, dass er alt wurde und sein Leben sich dem Ende näherte. Die Thir-Ailith wählten zumindest ihre männlichen Opfer immer nach dem Bartwuchs aus.
Der Reif um Lians Brust schien sich mit einem Ruck enger zusammenzuziehen und ihm die Luft abzuschnüren. Er wollte aufspringen, sich irgendwo verstecken, obwohl es in der Höhle keine Verstecke gab, er wollte irgendetwas tun, aber die Angst hatte bereits die Grenze zu lähmender Panik überschritten. Er war unfähig, sich zu rühren, schien jegliche Kontrolle über seinen Körper verloren zu haben. Nur sein Herz hämmerte so rasend schnell, als wolle es explodieren. Und vermutlich wäre das eine Gnade gegenüber dem gewesen, was ihn stattdessen erwartete.
Er war nicht der Einzige, dem es so ging. Alle Gespräche waren schlagartig verstummt, niemand bewegte sich mehr. In der plötzlichen Stille klang das Knarren der aufschwingenden Tür überlaut.
Wie stets kamen die Thir-Ailith zu dritt, der dreifach Gestalt gewordene Tod. Hochgewachsen und schlank, mit hageren Gesichtern von der Farbe ausgebleichter Knochen. Glattes, ebenso bleiches Haar rahmte ihre Gesichter ein und fiel weit über ihre Schultern. Ihre Augen besaßen die Farbe von Rubinen, die in einem inneren Feuer zu glühen schienen. Schwarze Kleidung schmiegte sich wie eine zweite Haut um ihre Körper, darüber trugen sie ebenfalls schwarze, fast bis auf den Boden reichende Umhänge, die sich bei jeder Bewegung bauschten.
Alle Thir-Ailith, die er bislang gesehen hatte, waren einander so ähnlich wie Zwillinge, sodass es Lian noch nie gelungen war, sie auseinanderzuhalten. Er vermochte nicht einmal zu sagen, ob sie männlichen oder weiblichen Geschlechts waren oder überhaupt verschiedene Geschlechter besaßen. Für ihn sah einer von ihnen aus wie der andere, und jeder einzelne stellte eine Inkarnation des Todes dar.
Es war die gleiche Prozedur wie jedes Mal. Einer der Thir-Ailith
blieb an der Tür stehen, die anderen beiden gingen im schwachen Lichtschein des an der Höhlendecke wuchernden Glühmoses mit langsamen, gemessenen Schritten zwischen den auf dem Boden kauernden Zwergen hindurch, begutachteten sie, als handele es sich um Vieh. Aber etwas anderes sahen sie ja vermutlich ohnehin nicht in ihnen. Nicht der Funke eines Gefühls war in ihren rot glühenden Augen zu erkennen.
Einer von ihnen deutete auf einen der Zwerge. Nacktes Entsetzen zeigte sich auf dessen Gesicht, doch mit ungelenken, steifen Bewegungen stand er auf.
Die Thir-Ailith zeigten auf weitere Zwerge, Männer wie Frauen, die nur eines gemein hatten: Sie waren alle ungefähr in Lians Alter, gerade voll ausgewachsen. Zumindest die Männer. Die Frauen waren älter, und jede von denen, die ausgewählt wurden, hatte bereits mehrfach Kinder geboren.
Unaufhaltsam näherten sich die beiden Todesboten Lian. Alles in ihm schrie danach, aufzuspringen und davonzustürmen, sich in der entlegensten Ecke zu verkriechen, aber sein
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