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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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verbarg.
    Die Geister antworteten einstimmig und gefällig:
    Â»Wenn irgend Grund ist zum Vertrauen auf dein Tun,
    so glauben wir, nicht schlecht sei, was du unternimmst.«
    Dann schwiegen sie und erstarrten erneut. Victoria fasste Mut. Endlich gelang es ihr, sich selbst zu vergessen, und ganz in ihre Rolle eintauchend erwiderte sie:
    Â»Mit dem Vertrauen steht es so: zu glauben Grund
    hab ich, doch mit Erprobung hatt’ ich noch nicht zu tun.«
    Die Geister wurden argwöhnisch und begannen im Kreis zu tanzen.
    Â»Doch muss man wissen, wenn man handelt. Wenn du auch
    zu wissen glaubst, du weißt nicht, eh’ du es erprobt.«
    Â»Halt!«, befahl eine Frauenstimme aus dem Zuschauersaal. Madame Iv.
    Der Ton duldete keine Widerrede. Gleich darauf erlosch der Scheinwerfer, und die Lichter im Saal gingen an. Der Beleuchter, ein dunkelhäutiger Mann um die vierzig mit Rastalocken, der hinter der Schalttafel am Ende des Saals gestanden hatte, setzte sich auf einen Stuhl und zündete sich eine selbstgedrehte Zigarette an.
    Das Theater hatte jeden Zauber verloren: ein kleiner Saal mit blau bezogenen Stoffsesseln und einer Wandvertäfelung aus Nussbaumimitat.
    Madame Iv erhob sich aus einem der Sessel in der Saalmitte und näherte sich mit elegantem Schritt der Vorbühne. Victoria beobachtete sie ehrfurchtsvoll. Madame war bereits über sechzig. Man konnte sie nicht unbedingt als schön bezeichnen, aber sie war groß und stattlich, ihre Haltung hatte etwas Majestätisches. Die Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen und ihrem Blick, der zugleich sehnsüchtig und streng, wohlwollend und unbeugsam sein konnte, eine besondere Tiefe verliehen. Sie hatte hohe Wangenknochen, blaue, durchdringende Augen, und ein perfekt frisierter weißer Pagenkopf umrahmte ihr Gesicht. Sie trug einen luftig leichten weißen Cardigan über einer pastellgrünen Seidenbluse. Ein farblich abgestimmter, wadenlanger Rock bedeckte die immer noch wohlgeformten, schlanken Beine.
    Abgesehen von dem Medaillon aus unbearbeitetem Stein, mit winzig kleinen, kaum zu erkennenden Einlegearbeiten, das sie stets an einer Goldkette um den Hals trug, hätte sie keine schlechte Figur bei Hof abgegeben. Das dachte Victoria, während sie von der Bühnenmitte aus, wo sie das Kästchen abgestellt hatte, beobachtete, wie Madame auf sie zukam.
    Einige Geister hatten die Kopfbedeckungen abgenommen. Es waren allesamt junge Frauen, etwa in Victorias Alter, mit stark geschminkten Wangen, wodurch die Gesichtszüge wie eingefallen wirkten. Als wären sie direkt aus dem Hades gekommen.
    Â»Fünf Minuten Pause, Mädchen«, sagte Madame. Dann klatschte sie zweimal leicht in die Hände. »Ihr leistet gute Arbeit«, fügte sie hinzu. »Holt euch etwas zu trinken. Aber nichts essen. Ich ruf euch dann.«
    Während die Chorsängerinnen zwischen den Stellwänden verschwanden, kam Madame die seitliche Treppe zur Bühne hinauf. Victoria wollte ihr entgegengehen, aber die Frau hielt sie mit einer Handbewegung davon ab.
    Â»Entschuldigen Sie, Madame … ich wollte nur …«, begann Victoria.
    Â»Geh raus zum Rauchen«, befahl Iv dem Beleuchter.
    Er zuckte mit den Schultern und verschwand.
    Dann wandte sich Madame an Victoria und fragte mit zarter, sanfter, beinahe schmeichelnder Stimme: »Victoria, wer bist du?«
    Die junge Frau war erstaunt. Die Arme, die an ihrem Körper herabhingen, zitterten leicht. »Ich bin Vi… Victoria«, stotterte sie.
    Madame kam einen Schritt auf sie zu: »Wer bist du hier oben?«
    Victoria biss sich auf die Lippe und verfluchte ihre Naivität. »Ich bin Deianeira«, antwortete sie.
    Â»Erzähl mir von dir, Deianeira.«
    Â»Ich bin die Frau des Herakles«, erklärte sie, hob das Kinn und schlüpfte erneut in ihre Rolle.
    Ivs Augen verengten sich zu Schlitzen, als würde sie einen entfernten Punkt ins Visier nehmen. »Bist du das, Deianeira? Nur eine Ehefrau?«
    Â»N… nein, ich bin Deianeira, Tochter des Oineus, des Königs von Kalydon, und der Althaia.«
    Â»Dann bist du also eine Prinzessin?«
    Â»Nein! Ich bin eine Königin.«
    Ohne darauf einzugehen, wandte ihr Madame Iv den Rücken zu und lief zum vorderen Teil der Bühne. Als sie den Bühnenrand erreicht hatte, begann sie erneut zu sprechen:
    Â»Das habe ich gar nicht bemerkt.«
    Â»Ich habe vergessen, das Kästchen der Sonne

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