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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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entgegenzustrecken, Madame«, verteidigte sich Victoria.
    Â»Du hast etwas ganz anderes vergessen. Du hast vergessen, was es heißt, eine Königin zu sein, die von ihrem Ehemann verlassen wurde. Von dem Sohn eines Gottes. Einem Nationalheros.« Sie legte eine Pause ein und seufzte. Dann fuhr sie mit sanfter Stimme fort: »Es ist schwierig, anders zu sein, als man ist … und vor allem anders zu sein, als man sich fühlt … Aber Deianeira war eine Mutter und die Frau eines Halbgottes. Kein junges Mädchen: Das darfst du nicht vergessen.«
    Â»Das weiß ich, Madame«, verteidigte sich Victoria erneut, »aber ich habe diese Rolle nur ersatzweise. Ich war bloß Komparsin. Ich spiele nur deshalb Deianeira, weil Angie krank geworden ist.«
    Â»Eben.«
    Victoria errötete. »Eben … was?«
    Madame Iv antwortete nicht sofort. Sie griff nach dem steinernen Medaillon auf ihrer Brust, hielt es in der Hand und betrachtete es einen Augenblick lang eingehend, bevor sie ihren Blick erneut auf Victoria heftete. »Genau das meinte ich: Du bist eine Ersatzschauspielerin in Die Trachinierinnen von Sophokles.« Iv atmete geräuschvoll ein. »Schön, du hast es versucht. Morgen werde ich dir eine leichtere Rolle geben. Danke für deine kostbare Zeit. Du kannst gehen.« Dann lief sie auf die kleine Treppe zu.
    Â»Nein«, hielt Victoria sie zurück.
    Iv blieb an der obersten Stufe stehen. »Was ist?«
    Die junge Frau setzte sich auf den Boden. Eine kleine Staubwolke stieg von den Bühnenbrettern auf. »Madame, ich weiß, was ich kann.« Sie sah Iv entschlossen in die Augen. »Lassen Sie es mich probieren.«
    Iv antwortete nicht. Eine ganze Weile verharrten sie so und schwiegen: Victoria auf dem Boden sitzend und Madame, die sie stehend aus einiger Entfernung musterte. Die beiden noch brennenden Profilscheinwerfer summten leise und tauchten den Staub in der Luft in rosa und hellblaues Licht.
    Schließlich erhob sich Victoria und erklärte energisch: »Ich möchte diese Rolle haben.«
    Â»Es heißt möchte «, korrigierte sie Iv. »Du musst es deutlich aussprechen, nicht so nuscheln wie die Schotten von den Inseln.«
    Â»Ich möchte sie haben.«
    Iv musterte sie einen Augenblick lang von Kopf bis Fuß, während sie erneut mit ihrer Halskette spielte. »Hör mir gut zu«, sagte sie und sah ihr in die Augen. » Sein, nicht haben .«
    Victoria hing an ihren Lippen.
    Â»Hast du jemals Epiktet gelesen?«
    Â»N… nein«, erwiderte Victoria mit dünner Stimme.
    Â»Er war ein griechischer Philosoph und als Sklave in Rom«, begann Madame zu erklären. »Aber trotz seiner Situation − er hatte noch dazu ein lahmes Bein − war er ein unterhaltsamer Mensch. Epiktet hatte einige großartige Ideen bezüglich des Lebens.«
    Iv verschränkte die Hände hinter dem Rücken und trat auf die Stellwände zu. Bei voller Beleuchtung war der orangefarbene Sonnenkreis kaum zu erkennen.
    Â»Das ist der Kern seiner Lehre«, fuhr Madame fort. »Einige der Dinge, die existieren, hängen von uns ab, andere hängen nicht von uns ab. Wenn du nur das, was zu dir gehört, als deines betrachtest, und das, was dir fremd ist, als dir fremd, kann niemand jemals Macht über dich ausüben.«
    Victoria senkte den Kopf und versuchte, den Sinn dieser Worte vollständig zu erfassen, während Iv weitersprach.
    Â»Als Domitian alle Philosophen aus Rom verwies, ließ sich Epiktet in der Stadt Nikopolis in Epirus nieder. Dort gründete er eine Schule, die großen Zuspruch fand. In seinen Reden verglich Epiktet die gewöhnlichen Menschen mit den weißen Fäden einer Toga. Alle absolut gleich. Er selbst hat sich jedoch immer, sogar als Sklave, mit dem purpurnen Faden verglichen. Mit jenem kleinen Teil, der die gesamte großartige und wundervolle Struktur zur Geltung bringt.«
    Iv erreichte das Bühnenende. Mit einer Hand strich sie über den dunklen Stoff der Stellwand und folgte dem hellen Rand der vom Projektor erzeugten orangefarbenen Sonne. »Den Schülern, die ihn baten, das genauer zu erklären, erwiderte er: ›Weshalb sollte ich? Damit verlangt ihr von mir, ein Mensch wie viele andere zu werden. Wenn ich es täte, wie könnte ich dann purpurn bleiben? Und euch besser werden lassen?‹« Iv drehte sich um und sah Victoria an.
    Â»Ich soll der purpurne Faden

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