Die Schwingen des Todes
Lenkrad und räusperte sich. »Ich sollte nicht so egoistisch sein. Meine Mutter ist auch deine Mutter.«
Sie verließen die Schnellstraße irgendwo im Zentrum der Stadt. Es herrschte noch wenig Verkehr, sodass sie gut vorwärts kamen. Aber Decker wusste, dass sämtliche Straßen innerhalb der nächsten Stunde völlig verstopft sein würden. Seine Wahlheimat L.A. war zumindest eine autofreundliche Stadt, während die Straßen von New York für leichte Kutschen konzipiert waren und nicht für Lieferwagen, deren Fahrer es für ihr gottgegebenes Recht hielten, überall in der zweiten Reihe zu parken - auch wenn das hieß, dass sich alle anderen zwischen ihnen hindurchzwängen mussten. Und auch die Straßenbezeichnungen hier waren eine Welt für sich. Es schien vollkommen unmöglich, eine bestimmte Adresse zu finden, wenn man nicht genau wusste, wo man anfangen musste. In Deckers Augen war jede Fahrt durch Manhattan vergleichbar mit einer riesigen Schnitzeljagd.
Er lehnte sich zurück und blickte aus dem Fenster, während er ü ber Jons Worte nachdachte: »Meine Mutter ist auch deine Mutter. «
»Irgendwie ist es schon komisch, Jon. Ich betrachte dich als meinen Halbbruder und fühle mich den anderen - deinen Brüdern und Schwestern - auch irgendwie verbunden. Aber deine Mutter. die, wie du schon sagtest, auch meine Mutter ist. zu ihr habe ich diesen Bezug noch nicht hergestellt. Und wahrscheinlich wird es mir auch nie gelingen.«
Jonathan nickte. »Das verstehe ich. Schließlich gibt es diesen kleinen Unterschied: meinen Vater.«
»Ja, vielleicht liegt es daran. Ich bin mir sicher, dass sie sich bei dem Gedanken an mich ziemlich unwohl fühlt.«
»Nein, keine Sorge. Sie weiß, dass ihr Geheimnis bei uns gut aufgehoben ist.«
»Na, dann in psychologischer Hinsicht«, lachte Decker. »Ich mag deine Mutter. Wirklich. Aber meine eigene Mutter lebt schließlich noch. Man kann von einem Mann nicht erwarten, dass er mehr als eine Mutter gleichzeitig liebt.«
»Ganz zu schweigen von mehreren Schwiegermüttern«, fügte Rina hinzu. »Meine Mutter und Mrs. Lazarus.«
Decker runzelte die Stirn. »Ja, genau. Zwei Mütter, zwei Schwiegermütter, zwei Töchter und eine Ehefrau. Ich bin umzingelt von all diesen östrogengesteuerten Wesen, und man sollte mich deshalb bedauern.«
»Das würde ich ja gern«, erwiderte Rina. »Nur im Augenblick bin ich schlecht gelaunt, weil ich unter PMS leide.«
Dabei verzog sie keine Miene. Decker wusste nicht, ob sie es ernst meinte, aber er stellte keine weiteren Fragen. Schlafende Hunde sollte man nicht wecken.
3
Auf dem Schild stand »Parkgebühr: 16,83 $ pro Stunde«. Decker war sich nicht sicher, ob er das auch richtig gelesen hatte, doch dann sagte Rina etwas von knappen Parkplätzen in der Innenstadt und dass jede Parklücke heiß begehrt sei. Aber mangelnder Platz hin oder her - die Gebühren waren der reinste Wucher. Und da ein typisches Geschäftstreffen zwei, drei Stunden dauern konnte, verstand Decker nun, warum die New Yorker so schnell sprachen.
Hershfields Kanzlei befand sich in der Fifth Avenue, eine für seine Kreise unerlässliche Adresse. Und da es noch früh am Morgen war, gelang es Jonathan auf wundersame Weise, den Wagen in einer Seitenstraße zu parken. Als Rina Hannahs Sicherheitsgurt löste, wachte die Kleine äußerst übel gelaunt auf. Decker hielt sie an der Hand, während sie zu der angegebenen Adresse gingen und die gigantischen Gebäude auch noch das letzte bisschen Licht verdrängten, das der Himmel zu bieten hatte. Der Bürgersteig war gesäumt von Mülltonnen und Containern. Hannah jammerte, als sie das mit Granit verkleidete Foyer des Wolkenkratzers betraten und sich an der Rezeption meldeten, die mit sechs grau gekleideten Wachleuten besetzt war. Sie musste dringend zur Toilette.
»Wir haben keine Besuchertoilette«, verkündete einer der Wachmänner.
»Was soll das heißen, Sie haben keine Besuchertoilette?«, konterte Decker. »Das ist ein sechzigstöckiges Gebäude.«
»Sicherheitsvorschrift. Alle Toiletten sind nur noch mit Schlüssel zugänglich. Mr. Hershfields Kanzlei liegt im dreiundvierzigsten Stock. Sie können gern den Schnellaufzug nehmen.«
Rina nahm Peters Arm und schob ihn zu einer Reihe von Aufzügen. »Fang bitte nichts an.«
»Der Typ ist ein Idiot. Sehen wir vielleicht aus wie Terroristen..«
»Pssst. Er kann dich doch hören.«
»Das soll er ja auch.«
»Ich muss Pipi...«
»Gleich, Süße«, brummte Decker.
Während sie
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