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Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Titel: Die Sechzigjaehrige und der junge Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Iuga
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Rechtsprechung geht nach ihren Prinzipien vor, die Vorgehensweise der heiligen Rechtsprechung ist eine ganz andere, oder ich fange sogar an zu glauben, sie geht gar nicht vor. Ist es bei Gott auch Notwehr, wenn er Kinder ermordet, wenn er verstümmelt, wenn er ganze Siedlungen vom Erdboden löscht; wenn er uns mit allen möglichen Illusionen hinters Licht führt, wenn er uns ohne Vorankündigung vom Thron stürzt, tut er das auch aus Notwehr? Vielleicht schon. Und wozu gibt es dann dieses Gewissen als höhere Instanz, wozu gibt es Schuldgefühle und all die Krokodilstränen, wenn er uns doch nach Seinem Ebenbild erschuf? Ich komme noch einmal zurück zu Camus’ Antwort auf Iwan Karamasows Satz, dass alles erlaubt sei – »das Absurde fordert nicht zum Verbrechen auf, aber es tilgt das schlechte Gewissen«. Spüren wir nicht alle einen Freiheitsdrang in uns, und im Namen dieses Instinktes sagen wir uns von unserem schlechten Gewissen los, handeln im Einklang mit dem Absurden, dem wir uns damit beugen, und verlieren so von Neuem unsere Freiheit? Dies ist ein geschlossener Kreis, aus dem wir nicht entkommen.Aber es ist ein Akt der Freiheit und ein Kampf gegen das Absurde – das sich im Grunde nur darin bestätigt. Kämpfen heißt den Gegner akzeptieren. Nicht einmal der Selbstmord reißt einen aus diesem Zirkelschluss, in dem wir gefangen sind. Nur Gutgläubige und übertriebene Optimisten hoffen, Freiheit sei möglich. Und wenn ich immer noch glaube, dass alles erlaubt sei, dann leide ich entweder an kindischem Optimismus, oder ich habe in mir einen anarchischen Instinkt, der mir Angst macht. Ich glaube so fest, dass all unsere Handlungen von Gott diktiert sind, dass ich die Existenz des Teufels ablehne; sogar das Böse schreibe ich, wie du siehst, Gott zu, das Absurde selbst ist seine Schöpfung, die Strafe, die dem Menschen gegeben ist, damit er »frei« sein kann. Und doch gibt es die Freiheit. Sie existiert in uns wie ein starker Instinkt, wie der Hunger, wie die Bedürfnisse des Fleisches, wie die Angst vor dem Tod. Wie sollte man sonst die aus der Haft Entlassenen verstehen, die sagen, sie seien nirgends freier gewesen; wo kommt dieser Freiheitsdrang her, der nicht nur den Menschen innewohnt, sondern auch den anderen Lebewesen dieser Erde? Sollte er ein Überbleibsel aus dem verlorenen Paradies sein? Aber auch dort, im Zeitalter der Gnade, gab es Verbote, sonst wäre die Verführung durch den Apfel nicht bestraft worden. Ich könnte ewig über dieses Thema sprechen, das wie alle Sackgassen der Welt zu nichts führt. Findest du nicht auch, dass die Menschen trotz ihrer unerbittlichen Gefangenschaft um jeden Preis der Unterdrückung entfliehen wollen; auch Eltern, Lehrer, Ehepartner, Direktoren, Präsidenten sind ja eine Art Unterdrücker, auch der liebe Gott, sobald uns alle Handlungen von jemandem vorgeschrieben werden, der sich unseremWillen gänzlich entzieht. Ist es dann nicht sogar eine Art Rechtfertigung, stur an die Utopie zu glauben, dass alles erlaubt sein müsste? Ich glaube nicht, dass Menschen, die keine Schuldkomplexe haben, wirklich uninteressant sind, wie meine Freundin mir einreden wollte, vielleicht wissen sie mehr, vielleicht existiert doch irgendwo einen Ort, an dem die Freiheit in Reichweite gekommen ist. Wahrscheinlich gibt es in uns irgendwelche Überbleibsel, wir erinnern uns an einen Zustand der Gnade, sogar in der Kabbala ist die Rede von einer Zeit der Gnade, sie ist die höchste Verheißung – die vor Hitze zitternden Sommernachmittage, wenn ich die kühle Melone aus dem Brunnen holte –, ich vermute, ich habe dich mit dieser Küchenphilosophie verschreckt, du glaubst ja so fanatisch an Gott, bei meinen ketzerischen Gedanken könntest du vor mir wegrennen wollen, aber sei ehrlich, hast du nie gedacht, dass das auch ein Weg sein könnte, an Gott zu glauben, vielleicht ist er gieriger, totaler, weil er die Liebe mit dem Hass vermischt. O weh, diese Argumentation hat mich Kraft gekostet. Schenk mir noch ein bisschen Bier ein. Er zuckt bei ihrer Bitte zusammen, so als wäre er der Wirklichkeit entrissen und in eine andere geworfen worden. Es ist ziemlich schal und ein bisschen bitter, dieser zwei Finger hohe Kragen aus Schaum über dem gelben, bernsteinfarbenen Zylinder ist trügerisch wie jede schöne Form, die den Inhalt veredelt. Anna hebt das Glas und tunkt ihre Lippen in die fade, klebrige Flüssigkeit. Sie verzieht ihr Gesicht, als hätte sie ein Medikament geschluckt. Es schmeckt

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