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Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Titel: Die Sechzigjaehrige und der junge Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Iuga
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fast groteske Weise zu überschminken; wie konnte so eine attraktive, anmutige Frau nur so rigide sein? Ich verstand erst später, dass sie in Wirklichkeit nicht das war, was sie scheinen wollte. Anna bittet ihn nicht mehr, sie nimmt sich selbst eine Zigarette, es tut gut, alles, was einem durch den Kopf geht, in Anwesenheit einesanderen auszusprechen, so als wäre man alleine, ohne allein zu sein, als verschlösse sich alles in einer Glaskugel, in der das eine Geschöpf die Leere des anderen füllt, so wie Wasser in zwei kommunizierenden Röhren auf dieselbe Höhe steigt. Ich weiß nicht, was mit uns geschieht, vielleicht ist es bloß Überschwang oder unbändige Lebensfreude, die wir miteinander empfinden, wer weiß, was für alte Neigungen oder heftige Enttäuschungen, die wir in der Gegenwart des anderen begleichen, uns in der Unmöglichkeit so uneingeschränkt verbinden. Der grüne Blick wird nicht überdrüssig, sich müden Auges dort einzurichten, wo außerhalb des Sichtbaren etwas geschieht. Es scheint, als wäre dieser Mann dazu verdammt, fortwährend nach unmöglicher Liebe zu suchen. Entweder verliebt er sich in Männer oder in alte Frauen, so sieht es jedenfalls aus, und in beiden Fällen kommt es zu keinem glücklichen Ende. Vielleicht hat er diese Perversion, den Masochismus, im ständigen Vorspiel zu leben. Vielleicht ist diese Qual für ihn genau die Selbstkasteiung, die ihn der göttlichen Verschmelzung näherkommen lässt, ihn reif für die Erleuchtung macht. Auf welche geistigen Höhenflüge kann man etwas Nichtvorhandenes schicken, um es existieren zu lassen. Was erfindet man nicht alles, um von geliebten Menschen einen unliebsamen Eindruck abzuwischen. Ich weiß ja, in uns allen steckt so viel Seltsames. Ich zum Beispiel bin, das sagte ich ja schon, sowohl die Nachbarin mit der Einkaufstasche als auch die Grande Dame der rumänischen Lyrik. Du ahnst ja nicht, wie sehr ich beide als Behinderung empfinde. In Gestalt der Ersten wird mir die Gnade zuteil, der gemeinsamen Gattung zugerechnet zu werden – dank der Tatsache, dass gewisseLeute mich für mittelmäßig halten –, in Gestalt der Zweiten wird mir die Ehre zuteil, in die Kategorie spezifischer Differenzen aufgenommen zu werden, denn andere Leute finden mich verwundbar, unbeholfen, eben alt. Du kannst dir sicher vorstellen, wie ich mich freuen würde, pfeifend durch einen Park zu schlendern, ohne Einkaufsbeutel oder Handtäschchen. Wo ist meine Verrücktheit, die meine Gedichte beglaubigt? Vielleicht in dieser qualvollen Doppelgestalt und in dem Versuch, mir eine immer neue Identität zu erfinden. Und mit Terry, manchmal weiß ich gar nicht mehr, welche von uns beiden ich eigentlich bin. Das gewaltvolle Eindringen in einen anderen, um seine eigenen vergifteten Gedanken dort abzulegen, das erinnert mich an diese billigen Filme, in denen der Verbrecher dem Opfer heimlich eine Schlange ins Bett legt. Sündigen wir denn, wenn wir schreiben? Erst jetzt wird mir klar, wie viel ich stehle, lüge, hinterrücks ermorde, mich prostituiere. Möglicherweise ist das der Fluch und das Verbrechen des Künstlers, sich nicht mit den Guten zu identifizieren, weil die Guten farblos sind, anziehend sind die Bösen, und wenn das Böse zu blass ausfällt, dann wird es mit dem aufgebauscht, was in einem selbst noch übrig ist. Will ich mich jetzt, da ich dir davon erzähle, für eine fiktive Schuld an Terry rächen? Verstehst du, eigentlich ist es mein eigenes Böses, das ans Licht muss, das entfesselt werden will. Aber gibt es denn Sünden, deren ich mich schuldig machen könnte? Manchmal liege ich vor dem Einschlafen stundenlang wach und finde keine einzige, die mir nicht Gott eingegeben hätte. Jean Valjean soll Gewissensbisse haben, weil er Mundraub beging, der Gefangene soll bereuen, weil er masturbiert, die Ehebrecherin ist schuldig, weil ihresexuelle Bereitschaft sich nicht auf einen einzigen Mann beschränkt, der Säufer, der seine Kinder verhungern lässt, soll sich umbringen, weil ihm nur noch der Alkohol hilft, das Leben zu ertragen. Und einer der lügt, einer der neidisch ist, der Denunziant, der Deserteur, der Meineidige, für jedes Vergehen gibt es einen Grund. Und der Verbrecher, der tötet, um sein eigenes Leben zu retten, Notwehr ist gesetzlich erlaubt. Eigentlich werden doch alle Gesetzesübertretungen aus Notwehr begangen. Immer sind die abscheulichsten Verbrechen von der anderen Warte aus gesehen nachvollziehbar. Die gesellschaftliche

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