Die Sechzigjaehrige und der junge Mann
er denken könnte, verbergen soll. Ich habe mit Homosexuellen Freundschaft geschlossen, die sich in mich verliebten und ich mich in sie. Diese Begegnungen gehören zu meinen makellosesten und würdevollsten Erlebnissen. Erst so habe ich das Verführerische platonischer Beziehungen kennengelernt, so lernte ich Kierkegaard verstehen, der jede Ausrichtung auf ein Ziel für sich ausschloss. Nun, diese Perversion, die eigenen Ziele nicht mehr zu verfolgen, ist vielleicht das vollkommenste Opfer, das ein Mensch bringen kann. Vielleicht verstehst du jetzt, wie glücklich es mich macht, dass wir hier seit fast zwölf Stunden in dieser Vertrautheit miteinander dasitzen, denn ich bin sechzig und nicht dreißig. Der grüne Blick ist noch schmaler geworden unter seinem Lid, das sich langsam wie ein Rollo absenkt. Paul Geraldys Verse kommen mir in den Sinn: »Baisse un peu l’abat-jour«, dieses sentimentale, antiquierte Gedicht … eine vollkommene Harmonie entsteht zwischen uns beiden, wie eine Hand, die sich ausstreckt, um auf halbem Weg wiederin die Jackentasche zu gleiten, glücklich darüber, sich bald ein weiteres Mal mit derselben Erregung ausstrecken zu können. Verstehst du, was ich mit »derselben Erregung« meine? Immer die Aufregung des Anfangs in sich zu tragen. Er schaut wieder auf die Uhr. Was hat ihn so irritiert an dem, was ich gesagt habe? Eine ähnliche Erfahrung? Nur was unsere innere Wahrheit bestätigt, trifft uns auf diese Weise. Ob er homosexuell ist? All seine Freundschaften mit älteren Männern … Hör auf mit dem Unsinn, warum solltest du ihm nicht glauben, dass er in Ermangelung eines Vaters männliche Vorbilder braucht. Ich kann ihm weder Mutter noch Vater sein, ich will ihm nichts beibringen, ich will nur als ich selbst an ihm teilhaben. Ich kann ihm nichts anderes sein als seine Autorin. Autorin, ja, das bin ich, auch für Terry und Anna und all die anderen Figuren, die ich erschaffe. Ist nicht auch die Welt letztendlich die Schöpfung eines Autors? Warum sollte ich nicht nach meinem Gutdünken mit Gott in Wettstreit treten? Weißt du, da ich gerade von Kierkegaard sprach, manchmal denke ich, dass mich die Philosophie genauso interessiert hätte wie die Literatur. Ich habe vor längerer Zeit bei Schopenhauer einen scheinbar kindischen Abschnitt gelesen, der sich mir jedoch eingeprägte, ich erkannte mich in ihm wieder. Er sagt dort, dass nur derjenige die wahre Berufung zum Philosophen habe, der die ihn umgebende Wirklichkeit undeutlich und konturlos wahrnehme, als wäre sie nur durch einen dünnen Vorhang sichtbar; seit meiner Jugend habe ich dieses Gefühl. Manchmal denke ich, es ist vielleicht eine Fehlsichtigkeit des Auges, aber wer weiß? Was hieltest du davon, wenn ich sagte, ich erkenne deinen Umriss nicht, der dich vom Rest der Welt abgrenzt,du existierst für mich nur als meine eigene Schöpfung. Ich habe in deiner Person zwei, drei, vielleicht mehr, vielleicht alle Geliebten verschmolzen, mit Anna und Terry steht es genauso. Terry ist eigentlich das Ergebnis einer ziemlich komplizierten Operation, ich habe in ihr ungefähr fünf Freundinnen zusammengemischt, habe ihre Identität verändert, die Berufe, das Alter, ich habe die Städte und Orte, an denen wir zusammen waren oder nicht, abgeändert. Ich habe mich mit Verdiensten geschmückt, die ich nicht habe, ich habe ihnen Fehler zugeschrieben, die sie nicht haben. Anna denkt und handelt auf meine Befehle wie ferngesteuert, und hinter euch stehe allein ich. In jedem von euch bin eigentlich ich. Ich bin alles, sowohl die Liebe als auch der Hass, die Bewunderung und die Ablehnung und die Großzügigkeit und der Neid. Und ihr alle setzt euch nicht zur Wehr und murrt nicht. So als wärt ihr ein Haufen von Masochisten, die es mit höchster Lust über sich ergehen lassen, verstümmelt zu werden. Besonders du, der du seit deinem Kommen unentwegt schweigst. Nur der grüne Blick ist lebendig in diesem ganzen Panoptikum, nur er hält mir stand, nur er erregt mich, nur er beherrscht mich. Der Mann ist erstarrt. Sie weiß, dass dieses Geständnis ihr seinen Verlust einbringen kann und ihren Tod. Aber sie wird diesen Alptraum nicht loswerden, wenn sie sich nicht selbst eingesteht, dass alles nur Illusion ist. Ich bitte dich voller Verzweiflung, ich bitte dich, ärgere dich nicht über mich, nachdem ich dir all das gesagt habe. Geh nicht fort. Gestern Morgen, nachdem du mich angerufen hattest, schloss ich die Augen, ich träumte nicht, ich war
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