Die Seele des Ozeans (German Edition)
genug Menschen unterwegs.“
„Schon mal Horrorfilme gesehen? Und schon mal analysiert, was denen passiert, die fragen, was ihnen schon passieren kann?“
Fae stöhnte auf. „Wie soll der mysteriöse Unbekannte uns hier finden? Wir sind weit weg von unserem Haus, mitten in einer Stadt. Kjell ist dem Meer seit Wochen ferngeblieben, und wir haben in der ganzen Zeit nicht die geringste Andeutung dafür bekommen, dass uns irgendwer verfolgt.“
Henry verschränkte die Arme vor der dürren Brust und schob den Unterkiefer vor. „Es gefällt mir trotzdem nicht“, beharrte er. „Bleib hier oder lass mich mitkommen.“
„Nein! Ich muss allein sein, okay? Seit über einem Monat war ich nicht mehr allein, abgesehen vom Klo. Das macht mich wahnsinnig.“
Abgesehen von den wunderschönen Stunden, die wir zu zweit verbracht haben.
Kjell würde frühestens heute Abend zurück sein, sofern Alexander und Ukulele ihn aus dem Wasser bekamen. Gut möglich, dass er sich erst Morgen oder Übermorgen vom See losreißen konnte.
„Ich bleibe nicht lange.“ Sie zog sich Mantel und Schal über und nahm einen der schwarzen Schirme, die in einem umfunktionierten Mülleimer neben der Tür standen. Kurz ging ihr durch den Kopf, dass sie gerade genauso düster aussah wie Henry. Egal. Es passte zum Wetter.
„Fae! Ich finde das wirklich nicht gut. Sei ein braves Mädchen, ja?“
„Vergiss es. Ich habe das Handy dabei. Und mein Pfefferspray. Und dieses Alarmding. Ihr habt mich bestens ausgestattet.“
„Alexander wird meine Rübe abreißen und mir in den Hals scheißen.“
„Sei ein Mann, Henry. Er würde dir genauso die Rübe abreißen, wenn ich hier drinnen durchdrehen und alles kurz und klein schlagen würde.“
„Wie du willst.“ Ruppig warf er seine Fiddel in einen der Sessel und verschwand in die Küche. „Stures Biest“, hörte sie ihn noch zischen, dann schloss sich die Haustür hinter ihr und sie war umgeben vom Plätschern und Rauschen des Regens.
Endlich durchatmen!
Bevor sie den Schirm öffnete, hielt sie ihr Gesicht in das strömende Wasser, spürte, wie die Tropfen auf ihrer Haut platzten, an ihr hinabrannen und die Kleidung durchnässten. Ohne Kjell wäre sie längst tot. Würde all das nicht mehr spüren. Keine sinnlichen Nächte, in denen sie nie genug von ihrer Lust bekamen und sich bis zur Erschöpfung liebten. Keine Filmabende bei Käse, Schinken und selbstgebackenem Brot. Keine Spaziergänge am Hafen, während derer sie den Schiffen nachblickte und das Brennen des Fernwehs in ihrem Bauch genoss.
Sie verdankte ihm so viel. Mehr, als sie je wiedergutmachen konnte. Er war ihre Verbindung zum Leben, ihr Rettungsseil, ohne dass sie untergehen würde wie ein Stein. Aber was konnte sie ihm bieten, außer sich selbst? Wäre sie nicht gewesen …
Wäre ich nicht gewesen, wäre er tot. Er hätte sich nicht zurückgekämpft, um mich noch einmal zu sehen. Er wäre einfach im ewigen Eis gestorben. Es war seine Entscheidung, genauso wie es meine war.
Sie spannte den Schirm auf und lief langsam in Richtung Hafen. Blickte nicht nach links und nicht nach rechts, starrte nur auf den Asphalt zu ihren Füßen und lauschte auf das vielstimmige Konzert des Regens. Als sie zufällig die Hand in ihre rechte Manteltasche steckte, ertastete sie ihren MP3-Player. Perfekt. Musik fehlte ihr noch zum Durchatmen. Fae klemmte die Schirmstange unter ihren Arm, entwirrte das Kabel und steckte sich die Kopfhörer in die Ohren.
Peter Bourkes Amnesia .
Eine seltsame Fügung. Aus einhundertsieben Liedern pickte sich das kleine Ding ausgerechnet ihren Lieblingssong heraus. Faes Herz krampfte sich zusammen, überwältigt von der Magie der Musik. Es fühlte sich herrlich an, und zugleich überfiel sie eine niederschmetternde, bittersüße Traurigkeit. Ihre Schuhe zertraten den Regen auf dem Gehweg. Kleine Wasserschwälle spritzten zur Seite. Der Himmel und die Häuser spiegelten sich in den Pfützen, auf manchen davon schillerten regenbogenbunte Schlieren. Autos rauschten wie Gespenster vorbei. Fae sang leise mit, schloss die Augen und lief ein paar Schritte blind. Gleich würde sie abheben, schwerelos werden und den Kontakt zur stofflichen Welt verlieren. Nein, sie öffnete die Augen und kehrte zurück, wenigstens zur Hälfte, während die andere irgendwo zwischen Erde und Himmel zurückblieb und mit ausgestreckten Armen im Regen tanzte.
Fae drehte sich und lachte, ließ ihren Schirm herumwirbeln, drehte sich immer schneller, bis sie
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