Die Seele des Ozeans (German Edition)
Dinger bewegten. Beinahe wie … nein, oh nein. Das war unmöglich! Es konnte nicht sein, dass ihm Kiemen wuchsen. Große, hässliche Fischkiemen. Sein Herz stolperte. Er japste nach Luft, sprang auf, trat mitten in einen der stinkenden Haufen hinein und rutschte aus. Plötzlich schlugen die Wellen über ihm zusammen. Er wollte schreien, stattdessen sog er das salzige Wasser in seine Lungen. Die Schlitze an seiner Seite brannten wie Feuer. Alles war ein wilder Strudel aus Schmerz. Sein Körper zerriss, löste sich auf. Er versank, und als er spürte, wie der felsige Meeresgrund über seine Haut schrammte … nein, über sein rohes Fleisch … verlor er endlich das Bewusstsein.
Kapitel III
Traumgestalten
~ Fae, September 2009 ~
S ie streckte die Arme aus und winkte Alexander.
„Fae, ich bitte dich“, rief er ihr zu.
„Worum?“
Ihr Bruder, flankiert von seinen beiden rechten Händen Henry und Paolo, antwortete mit einer gequälten Grimasse. Er warf die blonden Dreadlocks nach hinten und drohte ihr mit erhobener Faust, als wäre er kurz davor, sie zu packen und über seine Schulter zu werfen.
„Komm zurück oder ich werde sauer. So sauer, wie du mich noch nie erlebt hast.“
„Worum willst du mich bitten?“, wiederholte sie. „Etwa darum, dass ich mit dir zusammen alt und grau werde?“
„Darum, es nicht zu übertreiben.“ Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und sah dabei wie ein trotziges Kind aus. Sein psychedelisch gemusterter Ethnopullover und die Flickenjeans untermalten den jungenhaften Ausdruck, obwohl Alexander auf die Vierzig zuging.
Ihr Bruder war im Inneren nie erwachsen geworden, genauso wenig wie sie.
„Komm wieder her“, drängte er. „Komm schon, Fae.“
„Warum?“ Sie zog ihre Jeans aus und warf sie Paolo entgegen.
„Fang, Ukulele.“
„Warum nennst du mich immer Ukulele?“, beschwerte sich Paolo. „Ich kann diesen Namen nicht leiden.“
„Weil du aussiehst wie der Kerl, der auf seiner Ukulele Somewhere over the Rainbow gespielt hat. Weil du ein Hawaiianer bist und weil du für mich eben so heißt.“
„Schlechte Begründung.“
Fae streckte ihnen die Zunge heraus. Ukulele und Henry waren das absurdeste Paar, das ihr je untergekommen war. Aus irgendeinem Grund fiel es ihr heute Abend besonders auf, was vielleicht daran lag, dass Ukulele noch dicker und Henry noch dünner geworden war.
Ein Kürbis und eine verhungerte Krähe. Ja, das passte. Henry hatte Vogelkrallen statt Finger und seine Nase sah aus wie ein krummer, übergroßer Schnabel.
Fae fühlte einen unmittelbaren Stich in den Eingeweiden. Diese Abende am Lagerfeuer waren eine einzige Heuchelei. Sie wusste, dass die drei nur aus einem Grund in Irland sesshaft geworden waren. Nicht etwa, weil man ihnen aufgetragen hatte, Filmaufnahmen über die maritime Fauna der Nordküste zu liefern, sondern weil nach gerade mal dreiunddreißig Jahren Lebenszeit der Tod drohend an die Tür klopfte. Man hatte ihr noch acht Monate gegeben, jetzt war sie im neunten. Sie ging schwanger mit Vergänglichkeit, und ihre Maske saß perfekt. So perfekt, dass sie manchmal selbst darauf hereinfiel.
„Ich bin überfällig.“ Fae zuckte in gespieltem Gleichmut die Schultern. „Das Leben kann tödlich enden. Was spielt es noch für eine Rolle?“
Darauf wusste Alexander keine sinnvolle Antwort. Nicht mal Henry, dessen astronomischer IQ jedes Begreifen sprengte, konnte zu diesem Thema etwas Nützliches beisteuern. So oder so war ihre Zeit abgelaufen. Im Meer das Zeitliche zu segnen, war ihr tausend Mal lieber, als im Krankenhaus dahinzusiechen.
Der Kürbis und die Krähe gafften betroffen. Sonst nie um eine flotte Bemerkung verlegen, schalteten sie in Momenten wie diesen auf Auster um. Zack! Schale zu.
Warum hatte Alexander seinen Freunden das angetan? Sie wäre lieber allein gewesen.
„Nein!“, rief Fae zurück. Die erste Welle umschäumte mit lockendem Rauschen ihre Waden. Das Wasser glich vermutlich flüssigem Eis, wie immer hier oben am nördlichsten Zipfel Irlands, wo die Luft an manchen Tagen bereits nach dem Eis der Arktis zu riechen schien. Fae schreckte es nicht ab. Seit sie hier wohnten, um ihren letzten Wunsch zu erfüllen, war sie jeden Tag im Meer gewesen. Die Kälte machte ihr nichts mehr aus, seit der Tumor langsam ihre Sinne erstickte. Seit einigen Wochen fühlte sie Kälte ebenso wenig wie Wärme.
Mit grimmiger Entschlossenheit sprang sie ins Wasser und begann zu schwimmen. Ihr Körper reagierte
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