Die Seele des Ozeans
jetzt nicht schaffte, diesem Zustand zu widerstehen, würde er die Frau nie wiedersehen. Sie würde sterben und als ruhelose Seele durch den Ozean wandern. Ihre Sehnsüchte und Träume würden zu einem Teil des Meeres werden. Kaum mehr als ein Flüstern unter Millionen anderer toter Stimmen, die ihr Verlorensein beklagten.
Nein, bleibt weg!
Aber die stillgelegten Gedanken begannen wieder zu arbeiten. Kjell erinnerte sich an die Bücher, die er in den endlosen Stunden seiner Gefangenschaft gelesen hatte. Alle waren auf die eine oder andere Weise von der grausamen Natur des Menschen erfüllt gewesen, doch einmal hatte er Angus ein Buch gestohlen, in dem in bunten Bildern und schönen Texten die Tiere des Meeres erklärt worden waren.
Vor ihm glitt ein gespenstisch aussehender Fisch von etwa einem Meter Länge über den Schlick. Kjell musste nicht lange überlegen.
Grenadierfisch. Er liebt Schiffswracks und kann Töne mit Hilfe seiner Schwimmblase erzeugen.
Etwas weiter entfernt schwebte über einem abgeflachten Felsen eine blau leuchtende Wolke.
Laternenfische. Die Menschen nennen sie so, weil sie mit glühenden Pünktchen übersät sind, genauso wie die Wege und Straßen bei Nacht.
Gemächlich schwamm Kjell weiter, immer mit genug Abstand zum Grund, um keinen Schlamm aufzuwühlen. Das Muster aus Streifen und Sprenkeln, das sonst über seinen gesamten Körper verteilt schillerte, war vollkommen erloschen. Hier unten bedeutete Licht zu allererst eines: eine Einladung zum Fressen.
Als er auf die Felswände der Schlucht zusteuerte, kreuzte ein dicker, grün leuchtender Gespensterfisch seinen Weg, durch dessen transparenten Kopf man die inneren Organe erkennen konnte.
Ihm folgte nach einiger Zeit ein riesiger Lanzenfisch. Im prall gefüllten Bauch des Räubers zappelte sein noch lebendes Opfer. Nach Leibeskräften bemühte es sich, das Gefängnis aus überdehnter Haut zu zerreißen. Gut möglich, dass es ihm gelang. Ruderfußkrebse schwebten unsichtbar durch das Wasser, bis Kjell mit einer Hand durch den Schwarm wischte und die Tierchen in einer Wolke aus grellen Lichtblitzen vor ihm flohen. Nirgendwo fühlte er sich sicherer als hier unten, wo die Finsternis des Wassers schwer und undurchdringlich war. Hierher wagten sich weder Menschen noch Geister.
Wieder gingen ihm der Duft der Frau und die Hitze ihrer Gefühle durch den Kopf. Wonach hatte sie gerochen? Frisch und sauber wie Meeresschaum. Sinnlich wie Ambra.
Auch ein wenig wie die violetten Blumen, an denen er auf irgendeiner kleinen Pazifikinsel geschnuppert hatte.
Vor ihm in der Dunkelheit näherte sich ein großer Körper, enttarnt durch eine feine Strömung. Es war nicht der Pottwal, dessen Sonar inzwischen verstummt war. Kjell gab eine Abfolge von Tönen von sich, die ihm ein klares Bild vermittelten. Vor ihm schwebte ein Riesenkalmar.
Acht Tentakel hingen bewegungslos herab, während sich die beiden verlängerten Greifarme nach ihm ausstreckten. Das Weibchen hatte drei Zyklen erlebt und damit den Zenit ihres kurzen Daseins überschritten. Sobald es in der unendlichen Weite der Tiefsee einen Partner gefunden und für Nachwuchs gesorgt hatte, würde es auf den Grund sinken und sterben.
Kjell spürte die Neugier des Tieres. Nie zuvor war es jemandem wie ihm begegnet. Er bewegte sich nicht, als die mit Saugnäpfen besetzten Tentakel über seinen Körper glitten. Scharfe Raspelzähne ritzten seine Haut. Ein gewaltiges Auge, doppelt so groß wie sein Kopf, musterte ihn aufmerksam. Vielleicht hätte er Angst empfinden sollen. Der in ihm verborgene Mensch wollte sie fühlen und angesichts des scharfen Schnabels in Panik geraten, doch dieser Teil seines Wesens war nur noch ein Schatten in einem Schatten. Die Aussicht, jederzeit sterben zu können, besaß etwas Faszinierendes. Ein schneller Ruck, ein Biss, und alle Heilungskräfte hätten ihm nichts mehr genützt. Wie war der Tod?
Befreiend? Beängstigend?
Würde ihn eine andere Welt erwarten oder nur das Nichts?
Ein ohrenbetäubender Klicklaut schallte durch das Wasser. Etwas Riesiges schoss heran, packte das Kalmarweibchen und riss es von ihm fort. Die Saugnapfzähne schrammten über seine Schulter und gruben tiefe Schnitte, wo erst vor kurzem das Fleisch verheilt war. Der Pottwal hatte seine begehrteste Beute gefunden. Zehn Arme saugten sich an seinem Körper fest und rissen klaffende, ringförmige Wunden.
Gefangen im Jagdrausch spürte der Wal die Verletzungen nicht einmal. Ein Tentakel sank zuckend
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