Die Seele des Ozeans
Gratwanderung zwischen Schärfe und frostiger Zartheit mit symetrischer Eleganz meisterten, leuchteten die Augen in diesem fantastischen Türkis, das unmöglich echt sein konnte. Keine Kontaktlinsen, soweit sie das sehen konnte. Also musste es an ihrem Tumor liegen.
Sein Gesicht war das eines Heiligen. Eine bessere Umschreibung fiel ihr nicht ein. Da waren eine unerschütterliche, selbstsichere Ruhe und zugleich ein gnadenloser Zug um seinen Mund. Diesen Ausdruck kannte Fae nur von Menschen, die bereits in die Hölle und in den Himmel geblickt hatten und nichts von normalsterblicher Moral hielten. Etwas Unberechenbares ging von ihm aus. Es überzog ihren Körper mit Gänsehaut und jagte ihr eine Heidenangst ein.
„Du verstehst kein Wort von dem, was ich sage?“
Er antwortete mit Schweigen. Wie dieser Kerl sie ansah, wie er regelrecht in sie hineinblickte. Grundgütiger! Alles schien sich aufzulösen und in einem schwindelerregenden Strudel davonzutreiben. Ihre Kehle wurde trocken, ihre Hände schwitzig und heiß. Sie fühlte sich wie der Schokoriegel in der Mikrowelle.
Plötzlich nahm sie Flecken auf dem zuvor reinweißen Hemd des Fremden wahr. Rote, linear verlaufende Flecken. Die Felsen! Vermutlich hatte er sich furchtbar daran verletzt. Als sie nach ihm griff, verzog sich sein Gesicht zu einer argwöhnischen Grimasse. Er versteifte sich, ließ es aber zu, dass sie ihn an der Schulter berührte. Ein leises, erstauntes Geräusch kam über seine Lippen. Fae biss sich auf die Unterlippe. Sie musste ruhig bleiben, beherrscht und konzentriert. Auch wenn es unter den gegebenen Umständen eine schiere Unmöglichkeit darstellte. Vorsichtig zog sie sein Hemd hoch und forschte nach der Ursache der Flecken. Mein Gott, sein Oberkörper sah aus, als hätte ihn jemand ausgepeitscht. Das waren keine Wunden, wie sie Felsen rissen. Rote Striemen zogen sich über Brust und Schulter. Doch das war nicht einmal das Seltsamste.
An seiner Taille prangten zwei runde Male, die ganz nach den Abdrücken zahnbesetzter Saugnäpfe aussahen. Ziemlich großer Saugnäpfe. Eindeutig zu groß für einen gewöhnlichen Kraken.
„Wo zum Teufel hast du die denn her?“
Fae ließ das Hemd los, schob den Fremden mit sanfter Gewalt ins Haus und bugsierte ihn zu einem der Küchenstühle. Rembrandt folgte ihnen mit hochgerecktem Schwanz und rollte sich unter dem Tisch zusammen.
„Na egal.“ Sie seufzte. „Ich kümmere mich erst mal darum.“
Aus großen Augen verfolgte der Mann alles, was sie tat. Als sie ihm das Hemd auszog, begann er zu zittern wie ein panisches Tier und versteifte sich, doch als sie begann, beruhigende Floskeln zu murmeln und mit Hilfe einer Alkohollösung und eines Wattebausches seine Wunden zu reinigen, löste sich die Anspannung seines Körpers. Sie wusste, dass das Mittel brannte wie die Hölle, doch alles, was sie in seinem Gesicht sah, war Staunen und Verwirrung. Verbissen bemühte sie sich, ihre Gedanken zu kanalisieren. Der Anblick seines nackten Oberkörpers und seines scheuen Lächelns beschleunigte ihren Puls. Diese Situation war zu surreal, um wahr zu sein, und doch verrieten ihr das Ticken der Wanduhr und der Schmerz in ihrem Kopf, dass sie nicht träumte.
Seit ihr zeitnaher Tod feststand, war sie unvorsichtig geworden. Geradezu gleichgültig ihrem eigenen Schicksal gegenüber. Gut möglich, dass er ihr etwas antun wollte. Vielleicht hatte er diesen Moment abgepasst, weil sie allein war. Hilflos, ausgeliefert. Ohne großes Erstaunen bemerkte sie, dass es ihr völlig gleichgültig war.
„Hat dich etwas angegriffen?“
Ihr Blick heftete sich auf das runde Mal, das seine Hüfte zierte, knapp über dem Bund der Hose. Die Haut des Fremden war auf unwirkliche Weise glatt und hell. Kein Mensch besaß eine solche Haut. Vermutlich war es das Ding in ihrem Kopf, das einen sonderbaren Schleier über die Wirklichkeit legte und einen gewöhnlichen Mann in die Aura eines Märchenwesens hüllte.
„Wo hast du dir das zugezogen?“
Sie zog mit einer Hand den Bund herunter, was den Rhythmus ihres Herzens noch einmal beschleunigte, und säuberte die letzte Wunde. Obwohl ihr Puls raste und ihr Kreislauf haarscharf an der Grenze zur Ohnmacht balancierte, wünschte sie sich, den Rest der Nacht mit einem feuchten Wattebausch über diesen psychedelischen Körper zu streichen. Vermutlich war es das letzte Mal, dass sie einem Mann nahekam. Ein unpassender Gedanke, der ihre Augen brennen ließ.
Verdammt, verdammt,
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