Die Seele des Ozeans
Himmel über ihn hinweggezogen war. Monate waren seitdem vergangen, aber er erinnerte sich an das Unglück, als wäre es gerade erst geschehen. Der gewaltige Schlag, die Blutwolken im Wasser und das Gefühl, von der Schiffsschraube in zwei Hälften geteilt worden zu sein. Vermutlich war er gestorben, aber das Licht hatte ihn geheilt. Er erinnerte sich an die frostigen Berührungen der Geister, die seine schwachen Momente ausgenutzt hatten. An ihr gieriges Säuseln und ihre saugenden Lippen. Ohne das Licht, das sie vertrieben hatte, wäre er wohl vollends ausgesaugt worden.
„Es tut mir leid“, sagte er leise, als könnten die winzigen Geschöpfe ihn verstehen. Ihr schwaches Schimmern tat ihm im Herzen weh, es war kaum heller als gewöhnliches Meeresleuchten. Warum kehrten sie nicht zu ihrem Ursprung zurück? Blieben sie etwa bei ihm und nährten ihn, bis ihre Kraft ganz erloschen war? Zärtlich kitzelten die Flimmerhärchen seinen Körper.
Die Schrammen an seinem Rücken verschwanden, der tiefe Riss schloss sich. Als ihre Arbeit getan war, glitten die Wesen zurück in die Tiefe, um ihrem Erlöschen entgegenzudämmern. Auf seiner Haut klebten ein paar der winzigen Körper. Kjell nahm einen davon zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte ihn hin und her, konnte im Dunkeln aber nicht viel mehr erkennen als ein winziges Stück Gallert mit schlaff herabhängenden Beinchen.
Behutsam gab er ihn zurück ins Wasser, wusch die restlichen toten Wesen von seiner Haut und rollte sich zusammen, um ein wenig Schlaf zu finden. Die eine Hälfte seines Bewusstseins ruhte, die andere blieb wach und nahm wie durch einen Schleier alles wahr, was ihn umgab. Aus halb geschlossenen Augen starrte er in den Himmel hinauf, leicht wie eine Feder und schwer wie ein Stein. Finstere Wolkenberge jagten über die Klippen, zerfurcht von Silberfetzen, wo sich der Mond hindurchkämpfte. Seine menschlichen Beine begannen zu kribbeln, gefolgt von einem ziehenden Gefühl, das die Verwandlung ankündigte. Die Haut überzog sich mit silbernem Schimmer, weiße Schuppen hoben sich von ihr ab. Es tat nicht weh, ganz im Gegenteil, aber jedes Mal musste er an die erste Verwandlung denken, damals auf der Felseninsel. Die Schmerzen hatten ihm fast den Verstand geraubt. Was sich jetzt befreiend und richtig anfühlte, war damals ein Albtraum gewesen. Das Brechen seiner Knochen, die sich im ganzen Körper neu anordneten. Das Reißen der Haut, das Verschmelzen seiner Beine zu einem Klumpen, der nur langsam seine eigentliche Form angenommen hatte. Kjell hatte gedacht, sterben zu müssen, und vielleicht war er auch gestorben.
Aufzuwachen und auf einmal mit einer Flosse statt Füßen zwischen grunzenden Robben zu liegen, war der größte Schock seines Lebens gewesen. Er lächelte in Erinnerung daran. Wie schnell sich etwas, vor dem man Angst hatte, in etwas Wunderbares verwandeln konnte.
Gerade wurden seine Füße zu einer zusammengerollten Flosse, als ihn das Klackern eines Steines aufschreckte. Wärme strömte ihm entgegen, noch ehe er die Menschen sah. Flackernde, zarte Seelenlichter in der Kälte der Nacht. Er schmeckte Angst, scharfe Panik und bittere Wut. Es waren der Bruder der Frau und seine beiden Freunde.
Kjell beendete die Verwandlung, stürzte sich ins Wasser und schwamm hinaus in die offene See. Wie kalt und leer das Wasser plötzlich war. Erinnerungen wollten in ihm aufsteigen, immer energischer, je tiefer er in die Finsternis hinabglitt, doch er hinderte die Bilder daran, deutlicher zu werden. Das Land hatte er immer mit Demütigung und Whiskeygestank verbunden, mit Verzweiflung und versperrten Fenstern.
Doch seit er die Frau beobachtete, verwandelte sich seine Abneigung gegen diese Welt in etwas anderes. Es war nicht gut, überhaupt nicht gut, denn diese neuen Gefühle machten ruhelos und unzufrieden. Was, wenn eine Rückkehr an das Land der einzige Weg war, mit allem abzuschließen? Er würde die schlechten Bilder einfach gegen schöne austauschen. Die düsteren Erinnerungen mit etwas Tröstlichem auslöschen, das ihn im eisigen Norden wärmen konnte.
Vielleicht …
Aber nicht heute Nacht. Oder doch?
Weit vor der Küste befand sich ein Felsen, auf dem er manche Nacht verbrachte. Von hier aus konnte man gerade noch den Schein des Leuchtturms sehen, der wie ein Lichtfinger über das Meer glitt. Kjell nahm seine Menschengestalt an, zog sich an einem Vorsprung hinauf und kletterte, bis er außerhalb der Reichweite der Wellen war. Kaum saß er
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