Die Seelenjägerin - 1
verschwollen.
»Tot«, flüsterte er. »Sie sind alle tot. Nehmt Euch in Acht, Majestät! Es wird auch hierher kommen.«
Ein heftiger Husten erfasste ihn, und er suchte ihn, von Kopf bis Fuß zitternd, zu unterdrücken. Als der Anfall vorüber war, wischte ihm Siderea sanft den Schleim ab. Aus den rissigen Lippen sickerten dünne Blutfäden. Der lichte Moment war bereits wieder vorbei, sein Blick verschwamm und richtete sich in unbekannte Fernen. Sie redete leise auf ihn ein, um seine Aufmerksamkeit zu wecken, aber er starrte nur ins Leere und schien gar nicht zu hören, dass jemand mit ihm sprach.
Endlich stand sie auf und übergab einem der Diener die Kompresse.
»Wie kommt er hierher?«, fragte sie.
»Er wurde auf der Großen Straße gefunden, gleich nördlich der Stadt. Ein Reiter lieferte ihn hier ab und erzählte, er hätte etwas von Ungeheuern gefaselt. Offenbar war er zu Fuß von Corialanus gekommen … jedenfalls behauptet er das.«
Und ich glaube es ihm , dachte sie. Seine Lederstiefel hatten Löcher in den Sohlen, waren von Steinen und Dornen zerkratzt und voller Schlammflecken. Der Weg von Corialanus war weit, und bevor man die Große Straße erreichte, ziemlich mühsam. Zu Fuß musste er mindestens eine Woche unterwegs gewesen sein. Kein Wunder, dass er in einem so elenden Zustand war.
Sie dachte: Hadrian ist im Westen. Es überlief sie eiskalt.Sie brauchte dringend einen Rat. Von einem Ratgeber, wie er in ihrem Reich derzeit nicht zur Verfügung stand. Im Stillen verfluchte sie ihre Abhängigkeit von fremden Mächten, aber natürlich hatte sie sich selbst dafür entschieden; der Preis der Unabhängigkeit wäre einfach zu hoch gewesen.
»Kannst du ihn zu sich bringen?«, fragte sie den Leibarzt. »Wird er sprechen können?«
Der Mann zögerte. »Mit der Zeit schon, Majestät. Doch wie Ihr seht, steht er am Rande eines körperlichen Zusammenbruchs. Wenn Ihr ihm ein paar Stunden Schlaf gewährt, ist er vielleicht zu klareren Aussagen fähig.«
»Meinetwegen.« Sie nickte zwei Dienern zu, die neben dem Bett standen. »Säubert ihn, damit man ihn auf Verletzungen untersuchen kann.« Einem dritten befahl sie: »Gib ihm zu essen und etwas Wasser; der Arzt kann dir sagen, was am besten für ihn ist.« Dann wandte sie sich an den Leibarzt: »Behandle die Wunden, bei denen Eile geboten ist, und wenn du nichts Dringendes mehr findest, lass ihn schlafen. Wenn er wieder bei Sinnen ist, werde ich mir seine Geschichte anhören.«
»Wie Ihr befehlt, Majestät.«
Es war nicht leicht, eine Gelassenheit vorzutäuschen, die sie nicht empfand. Aber sie durfte ihren Dienern nicht zeigen, wie ungeduldig sie auf die Nachrichten dieses Mannes wartete, sonst fragten sie sich noch, warum sie, die berühmte Hexe, nicht ihre Macht einsetzte, um ihm sein Wissen zu entreißen. Oder um ihn zu heilen, damit er früher sprechen konnte.
Oh, sie brannte förmlich vor Neugier, es gab tausend Dinge, die sie wissen wollte, aber die Männer, die ihre Neugier befriedigen konnten, waren nicht zugegen, also musste sie warten, musste ihre fieberhafte Sorge hinter einer Maske königlichen Gleichmuts verbergen und so tun, als wäre ihre Geduld unerschöpflich. Natürlich war sie an diese Rolle gewöhnt. Die Hexenkönigin von Sankara war vor allem eine glänzende Schauspielerin.
»Ruft mich, wenn irgendeine Veränderung eintritt«, befahl sie. »Bis dahin muss ich mich um meine Gäste kümmern. Sie dürfen von diesem Zwischenfall nichts mitbekommen.«
Sie sind alle tot. Nehmt Euch in Acht, Majestät! Es wird auch hierher kommen.
Innerlich erschauernd verließ sie den Raum.
Die Macht. Sie spürte sie in ihrem Inneren, zusammengerollt, unberührt, diffus wie ihren eigenen Herzschlag, wie das Pochen des Blutes in ihren Adern, wie das Ein und Aus der Luft in ihren Lungen.
Nicht zum ersten Mal dürstete sie danach, sie freizusetzen. Sie dürstete danach zu zaubern wie ein Magister, jenen glorreichen Augenblick zu erleben, wenn der Wille zur Magie wurde, wenn ein einziger Gedanke die Himmel erschütterte. Manchmal des Nachts, wenn sie ganz still lag, glaubte sie zu spüren, wie das Seelenfeuer nach außen drängte, als dürstete es ebenso nach Freiheit wie sie selbst.
Aber der Preis für diese Macht war der Tod, und sie hatte schon vor langer Zeit entschieden, dass sie diesen Preis nicht entrichten wollte.
Endlich verabschiedeten sich auch die letzten Gäste. Im Palast kehrte Ruhe ein, und sogar die Wände schienen erleichtert
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