Die Seelenjägerin - 1
sich lange gedulden, denn er war mit seinen Gedanken offenbar weit weg.
Als er sie endlich wahrnahm, fragte sie ruhig: »Warum hast du das getan?«
»Was? Das mit dem Kind?«
Sie nickte.
Er sah plötzlich sehr müde aus. »Was geht dich das an, Junge?«
»Es gibt nicht viele Männer, die sich um solche Dinge kümmern.«
Einer seiner Mundwinkel zuckte, fast wurde ein Lächeln daraus. »Dann bin ich eben anders als andere Männer.«
Kamala trat ein paar Schritte näher. »Du weißt aber, dass du nichts ausrichten kannst. Sie wird morgen wiederkommen. Oder sich ein anderes Wirtshaus suchen.«
Seine Schultern krümmten sich wie unter einer schweren Last. Er seufzte tief auf. »Ich weiß. In dieser Welt haben die Worte eines Einzelnen nur wenig Gewicht.«
Etwas an seinem Tonfall ließ Kamala aufhorchen. Er ist gewöhnt, dass seine Worte mehr bewirken , dachte sie. Dass sie die Macht haben, Dinge zu verändern.
Neugierig geworden, fasste sie ihn am Ärmel. Er sah sie befremdet an, wich aber nicht zurück. Der Stoff war so fein und glatt, wie ihn nur ein Meisterweber zustande brachte, und der Nachhall der Geschichte des Besitzers haftete ihm an. Ansehen, Reichtum und eine leidenschaftliche Unabhängigkeit. Er hat in dieser Kleidung Auseinandersetzungen mit einem Höhergestellten geführt , stellte sie fest. Mehr als einmal. Davon abgesehen gab es nur schwächere Spuren, die ihr nicht vertraut waren und die sie nur mühsam entwirren konnte. Als sie endlich erkannte, worauf sie zurückgingen, stockte ihr der Atem. Nicht einmal Ravis Besitztümer hatten einen so starken natürlichen Machtanspruch ausgestrahlt. Dafür gab es nur eine mögliche Erklärung, und die war unter den Umständen so ausgefallen, dass es ihr schwerfiel, daran zu glauben.
»Du bist nicht, was du zu sein scheinst«, sagte sie endlich.
»Du auch nicht«, gab er gelassen zurück. Sie begriff, dass auch er sie gemustert hatte. Und sie war zu beschäftigt gewesen, um die üblichen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Ihr blieb fast das Herz stehen, als er nach ihrer Wollmütze griff, aber sie tat nichts, um ihn daran zu hindern. Er zog ihr die Mütze ab. Ihr rotes Haar fiel wie eine feurige Wolke um ihr Gesicht, eine wilde Mähne, keine langen Frauenlocken, wie er vielleicht erwartet hatte, aber auch ganz sicher nicht die Haartracht eines Jungen.
»Vielleicht bin ich jetzt an der Reihe, die Fragen zu stellen«, sagte er. »Ich fange an mit … Warum berührt dich das Schicksal dieses Mädchens so sehr?« Als sie nicht antwortete, fuhr er fort: »Andererseits, eine Frau, die in Männerkleidung durch die Lande zieht … soll ich raten?«
Sie errötete. Das war ihr bisher nur bei Aethanus widerfahren, und sie verwünschte sich selbst, weil sie nicht besser auf der Hut gewesen war. »Ratespiele sind ein gefährlicher Zeitvertreib.«
»Wirklich?« Die blauen Augen waren nicht mehr kalt wie Eis, sondern warm wie ein Bergsee im Sommer. »Das Reh im Wald, das nie einen Menschen gesehen hat, fürchtet die Armbrust nicht. Ein Reh dagegen, das selbst gejagt und verwundet wurde, schärft seinem Kitz ein, die Flucht zu ergreifen, sobald es einen Menschen wittert.« Wieder huschte ein schwaches Lächeln über seine Lippen, weder lüstern, noch grausam, sondern ungewöhnlich mitfühlend. »Oder irre ich mich?«
Sie war für einen Moment sprachlos. »Du vergleichst mich mit einem Reh?«
»Dann eben mit einem Wolf«, gluckste er. »Die Beobachtung bleibt trotzdem zutreffend. Nur würde die Mutter in diesem Fall jedem die Kehle aufreißen, der sie jagen wollte.«
Sie hatte sich halbwegs wieder gefasst und zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »Wem gleiche ich denn nun, einem Reh oder einem Wolf? Du musst dich schon entscheiden.«
»Frauen können beides zugleich sein.« Er grinste. »Deshalb wird jeder Mann verrückt, der sie verstehen will.«
Bevor sie antworten konnte, schwang die Wirtshaustür auf. Sie sah, wie sich seine Züge verhärteten, und wandte sich schnell um, um zu sehen, ob neuer Ärger drohte.
Es war der Wirt. Er schaute hektisch nach allen Seiten, als rechnete er mit Unannehmlichkeiten, und das bestätigte ihr zumindest, dass ihr Zauber wirkte. In einer Hand hielt er ein Reisebündel, bestehend aus Wolldecken mit verschiedenen Vorräten, das sichtlich von jemandem geschnürt worden war, der es eilig hatte und nicht sehr geübt war; in der anderen Hand hatte er eine kleine Lederbörse.
Er sah den Fremden an, dann räusperte er sich und spuckte
Weitere Kostenlose Bücher