Die Seelenjägerin
anders beschreiben. Ich hatte so etwas noch nie erlebt.« Er hielt inne. »Mein Vater war sehr beunruhigt. Er rief Meister Ramirus, damit der mich untersuchte, doch inzwischen war es, als wäre nie etwas geschehen. Meine Kräfte waren zur Gänze zurückgekehrt, und der Magister konnte keine Spuren einer Krankheit oder eines körperlichen Schadens finden.«
»Könnt Ihr mir diese Schwäche genauer beschreiben?«, bat Colivar.
Der Prinz holte tief Atem und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Es war, als überkäme mich schlagartig eine tiefe Mattigkeit. Nicht nur die Glieder waren betroffen, sondern auch die Seele. Es fehlte mir nicht wirklich an Kraft, ich hatte nur nicht den Willen, sie einzusetzen. Ich weiß, das klingt seltsam. Es ist schwer, die richtigen Worte dafür zu finden, besonders nach so langer Zeit. Aber so habe ich es in Erinnerung.
Ein Diener reichte mir eine Flasche mit Bier. Ich weiß, dass ich sie in den Händen hielt, aber nicht fähig war, sie an die Lippen zu führen. Nicht, dass sie zu schwer gewesen wäre. Ich sah nur … keinen Sinn darin.«
Colivars Miene hatte sich im Lauf der Erzählung zusehends verdüstert. »Weiter«, sagte er ruhig.
»Mehr geschah beim ersten Mal nicht. Vater brachte im Tempel Opfer dar, um alle Götter zu beschwichtigen, die ich möglicherweise erzürnt hatte, und meinte, ich solle mir weiter keine Sorgen machen.«
»Aber die Schwäche kam wieder.«
Der Prinz nickte. »Ja. Der zweite Anfall war bei Weitem nicht so dramatisch … auch der dritte nicht.« Er seufzte schwer. »Mittlerweile erhole ich mich nicht mehr so schnell. Die Phasen der Schwäche, die Tage mit normaler Kraft … sie fließen ineinander, bis ich nicht mehr zuverlässig zwischen ihnen zu unterscheiden vermag. Manchmal scheint in meiner Seele die Sonne, und die Welt ist hell und freundlich. Dann wieder … dann wieder schaffe ich es nicht einmal, mein Bett zu verlassen. Und ich frage mich, ob schon bald der Tag kommen mag, an dem ich für immer liegen bleibe.«
Colivar spürte, wie Ramirus ihn ansah. Doch er vermied es bewusst, den Kopf zu heben und den Blick zu erwidern.
»Von anderer Seite sagt man mir, es sei die Schwundsucht«, erklärte der Prinz. Er sprach das Wort furchtlos aus, ein Beweis für seinen Mut. Die meisten Menschen hätten schon beim Namen dieser schrecklichen Krankheit ihr Bett genässt.
»Das wäre möglich.« Colivar nickte unverbindlich. Er hielt seine eigenen Gefühle streng unter Verschluss. »Es könnte auch einfach eine von diesen unberechenbaren Krankheiten sein, die in Schüben auftreten. Im Süden gibt es viele davon.«
Ramirus schaltete sich ein. »Deshalb wollte ich den Magister Colivar hinzuziehen.«
Der Prinz breitete einladend die Arme aus, eine elegante Bewegung von solcher Vornehmheit, dass sie die Angst dahinter fast überspielte. Aber nur fast. »Was wollt Ihr also von mir?«, wiederholte er.
Colivar streckte ihm die Hände entgegen. Der Prinz zögerte kurz, dann hatte er verstanden und ergriff sie.
Das Blut fließt, das Fleisch ist warm, das Herz schlägt ruhig, der Puls ist schwach, aber regelmäßig … Colivar drang mit allen Sinnen in den Körper des Prinzen ein, um die Beschaffenheit seiner Lebenskraft und die Reinheit seiner sterblichen Hülle zu prüfen. In diesem Bereich war keine Krankheit festzustellen. Nicht der leiseste Hauch. Das hatte er zwar vermutet, aber eine Bestätigung war allzu unerfreulich, und so hatte er gehofft, er hätte sich getäuscht.
Krankheiten konnte man heilen.
Er zog mehr Kräfte aus seinem Inneren ab, richtete den Blick noch weiter in die Tiefe und forschte im Fleisch des Prinzen nach anderen greifbaren Ursachen für sein Siechtum: Parasiten, Entzündungen, krankhafte Wucherungen, verborgene Verletzungen … aber er fand nichts. Nur einen längst verheilten Knochenbruch, mit Erinnerungsfragmenten behaftet: ein Sturz vom Pferd.
Erst dann suchte er, wo er nicht suchen wollte, nach der Antwort, die er nicht zu finden hoffte.
Im Seelenfeuer des Prinzen.
Bei einem so jungen Mann hätte es hell lodern müssen; alles andere wäre unnatürlich gewesen. Zu sagen, das Feuer seines Geistes sei niedergebrannt und am Erlöschen, hieße nichts anderes, als diesen jungen Mann, diesen sympathischen, von Tatkraft strotzenden Prinzen als hinfälligen Greis zu bezeichnen.
Und doch war dies die Wahrheit.
Keine Krankheit konnte es erklären. Keine Verletzung, kein Gewächs, kein Parasit.
Es gab nur eine Erklärung.
Er
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