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Die Seelenjägerin

Die Seelenjägerin

Titel: Die Seelenjägerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Celia Friedman
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Er selbst war eindeutig kein Soldat, dachte Siderea, nur ein Dorfbewohner, der dafür bezahlt wurde, dass er den Trupp »für Notfälle« begleitete. Jetzt war ein solcher Notfall eingetreten, und er war völlig überfordert.
    Dann öffneten sich die Bäume zu einer Lichtung, und er sah, was ihn dort erwartete.
    Er fiel auf die Knie.
    Siderea keuchte auf.
    Er war von Leichen umgeben, so weit er sehen konnte. Alle waren sie auf hohe Pfähle gespießt, die senkrecht in die Erde gerammt waren. Sie waren wohl schon eine ganze Weile hier, wilde Tiere hatten ihnen weitgehend das Fleisch von den Knochen gerissen, aber an ihrer Haltung war zu erkennen, dass man sie lebend gepfählt und damit zu einem langsamen und qualvollen Tod verurteilt hatte.
    Es waren Dutzende, vielleicht sogar Hunderte. In der Erinnerung des Hexers war die Zahl schwer zu bestimmen, die Szene war wohl so grauenhaft, dass die Bilder nicht scharf bleiben wollten. Die Vision zerfloss bereits an den Rändern, nicht einmal Colivars Zauber konnte verhindern, dass die Schreckensszenen im Wahnsinn des Mediums untergingen.
    Der Hexer in der Vision fiel auf die Knie und übergab sich.
    »Ist das Dantons Werk?«, flüsterte Siderea. Es war das Erste, was ihr in den Sinn kam. Kein anderer Herrscher schien ihr solcher Gräueltaten fähig.
    Doch dann stieg jenseits des Speerwaldes ein schwarzer Schatten auf. Ein geflügeltes Wesen, das sich hinter einem Felsen versteckt hatte, stieg zum Himmel empor.
    Die Vision drohte zusammenzubrechen. Der Hexer auf dem Bett stöhnte. Seine Lippen waren blau geworden, und er verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war.
    Das Ungeheuer hatte keine Ähnlichkeit mit einem Vogel, einer Fledermaus oder einem anderen Wesen der Lüfte. Seine mächtigen Schwingen überspannten das gesamte Speerfeld und warfen ihren Schatten über die Reihen verwesender Kadaver. Sie waren wie bei einer Heuschrecke von Adern und Sehnen durchzogen, und wo das angstgedämpfte Sonnenlicht darauffiel, schillerten sie in allen Farben, als wären sie aus buntem Glas.
    Es war schrecklich. Man war vor Angst wie gelähmt. Und doch war es auch … schön. Siderea spürte die Schönheit sogar durch die Nebel von Colivars Vision, sie spürte, wie sie sich um ihre Seele legte, als sie das Wesen ansah, und sie erstarren ließ wie einen Hasen in dem schlimmen Moment, bevor der Habicht zustößt. Eine Ekstase der Hilflosigkeit. Wie viel stärker musste die Wirkung auf den Mann gewesen sein, der die Bestie in Wirklichkeit gesehen hatte? Jetzt verstand sie, warum er die Erinnerung nicht ertragen und nicht einmal seine Geschichte erzählen konnte, ohne von dem Geschauten überwältigt zu werden.
    »Mach es klarer«, gebot Colivar in einem Tonfall, wie sie ihn aus seinem Mund noch nie gehört hatte. »Sieh genauer hin, wir brauchen Einzelheiten …«
    Die Bestie stieg höher, ihre Schwingen bewegten die Luft mit solcher Kraft, dass die Leichen an ihren Pfählen erzitterten. Die Vision schickte keine Gerüche aus, aber Siderea spürte, wie die Angst des Hexers so übermächtig wurde, dass sich seine Blase entleerte. Als hätte dieser Umstand seine Aufmerksamkeit erregt, drehte das Wesen genau in dem Moment den riesigen Kopf in seine Richtung, und Siderea sah, wie der Mann abermals so viel von seiner Macht beschwor, wie er es wagen konnte, und sich damit tarnte, sodass er, wenn der Blick des unheimlichen Geschöpfes auf ihn fiel, wie eine der gepfählten Leichen erschien. Die List war in der Vision wie ein trüber Schleier, unter dem seine wahre Gestalt noch sichtbar war, aber in Wirklichkeit hatte der Zauber wohl seinen Zweck erfüllt. Das Ungeheuer schaute einmal, zweimal, dreimal über das Leichenfeld … dann schwang es sich höher in den Himmel empor und flog rasch nach Süden.
    Nun zerfiel die Vision endgültig, und Colivars gesamte Macht konnte sie nicht mehr zusammenhalten. Bilder zuckten durch den magischen Nebel; Szenen, die wie im Schein nächtlicher Blitze jäh aufleuchteten und rasch wieder verschwanden. Der Hexer rannte durch den Wald. Leichen in einem Lager. Er stolperte über die erste und landete mit dem Gesicht im Schmutz. Schrille Schreie. Die Schatten von Schwingen. Er kauerte sich zwischen die Toten und beschwor seine Macht, um wie einer von ihnen auszusehen. Eine rot angeschwollene Sonne ging auf. Er taumelte durch die Wälder an den einzigen Ort, der Hoffnung auf Sicherheit bot …
    Immer schneller wechselten die Szenen, und mit jedem neuen

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