Die Seelenjägerin
wusste nicht, was von beiden sie mehr fürchten sollte.
Seit dem Gespräch mit Netando waren zwei Tage vergangen. Ein Tag noch, und sie wäre wieder unterwegs und könnte sich zwischen seinen Dienern und Bewachern verstecken. Konnte sie noch so lange warten? Die Albträume zermürbten sie. Vielleicht hörten sie auf, wenn sie diese Stadt verließ, wenn sie sich viele Meilen weit entfernte … aber wovon? Welche Zuflucht wäre sicher? Sie wusste ja nicht einmal, was sie verfolgte, geschweige denn, wie sie ihm entrinnen könnte.
Nur eines stand fest – dass nämlich alles nur noch schlimmer würde, wenn sie sich in ihrem Zimmer verkroch. In einem größeren Raum konnte sie sich ablenken und vielleicht etwas mehr über die Welt erfahren, in der sie von nun an unterwegs sein würde. Kamala die Hure hatte nichts außer ihrer eigenen Stadt gekannt, und Aethanus dem Einsiedler hatte mehr daran gelegen, sie in die Geheimnisse der Zauberei einzuweisen, als über Aufstieg und Fall von Morati-Regierungen zu sprechen. Jetzt, an diesem Ort lag zum ersten Mal die ganze Welt vor ihr, aber in Einzelteilen, die sie zusammenfügen musste wie die Steine eines riesigen und verwirrenden Mosaiks. Nationen, Kriege, Monarchen, Verträge, politische Triumphe und gesellschaftliche Absurditäten zogen schwindelerregend schnell an ihr vorüber, und sie hatte größte Mühe, so etwas wie eine geistige Landkarte zu erstellen, die das alles in einen Zusammenhang setzte. Natürlich konnte sie weder nach einer echten Landkarte fragen, noch jemanden bitten, ihr die Wissensfragmente zu erklären, mit denen alle so großzügig um sich warfen. Denn eines hatte ihre Jugend in Gansang sie gelehrt: Wenn man seine Unwissenheit offen eingestand, zog man den Ärger an wie verfaultes Fleisch die Fliegen. Unter diesen Gästen, die sich so viel auf ihre Weltläufigkeit zugute taten, würde sie mit einer Bitte um Hilfe nur die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Und das galt es um jeden Preis zu vermeiden, falls tatsächlich jemand hinter ihr her war.
Hin und wieder entdeckte sie einen anderen Gast, der ebenso still in den Schatten saß wie sie, und fragte sich, ob er sich wohl auch so verloren, so bedrängt fühlte. Die Männer auf der Bühne bemerkten offenbar gar nicht, dass sie Publikum hatten. Vielleicht war es ihnen auch nur gleichgültig. Übermütig, mit sich selbst beschäftigt und im Lauf der Nacht zunehmend betrunken, bildeten sie sich wahrscheinlich ein, von jedem bewundert zu werden, der sie sah.
Endlich hatte Kamala den Eindruck, ihr Kopf könnte an diesem Abend keine einzelne Tatsache über die Welt mehr aufnehmen, ohne zu platzen, und die Müdigkeit würde sie überwältigen, wo immer sie sich aufhielt. Also stand sie auf, um zur Treppe zu gehen. Das dunkle Zimmer war zwar wenig einladend, aber immer noch besser, als hier in der Schankstube einzuschlafen und ihren Albträumen oder noch schlimmeren Nöten ausgeliefert zu sein.
Doch als sie so unauffällig wie möglich durch den Raum ging, trat ein kleines Mädchen ein, und sie blieb wie angewurzelt stehen.
Vielleicht war es das Alter des Kindes. Vielleicht der halb ängstliche, halb entschlossene Ausdruck in seinen Augen. Vielleicht die Unbeholfenheit, mit der es sich der Schar von Betrunkenen näherte, als wüsste es zwar in Worten, was es von ihnen wollte, hätte aber ihren Körper von diesem Unternehmen noch nicht überzeugt. Es war zehn, höchstens zwölf Jahre alt, aber die körperliche Spannung, unter der es stand, war so deutlich zu spüren wie die Wärme eines Backofens.
Kamala glaubte, in einen Spiegel zu schauen. Nein, genauer: Sie schaute wie durch eine verzerrende Linse, aber nicht in die Gegenwart, sondern in die Vergangenheit.
Das Mädchen war sauber in der Art von Bauern, wenn sie sich in gute Gesellschaft begaben: das Haar frisch gewaschen, das Gesicht geschrubbt, die rauen Hände rosig, aber mit verräterischen dunklen Rändern da, wo das Wasser gewöhnlich nicht hinkam. Hatte sie selbst auch einmal so ausgesehen? Ihr wurde die Kehle eng, als sie die Fingernägel der Kleinen sah. Sie waren nur flüchtig gewaschen worden und hatten Schmutzreste unter der Nagelhaut. Natürlich hielt sich das Mädchen selbst für rein. In diesem Zustand hatte Kamala das früher auch von sich gedacht.
Es trat so zögernd in den großen Raum wie ein Reh auf eine fremde Wiese, wo auf allen Seiten Raubtiere lauern konnten. Doch im Gegensatz zu einem Reh würde das Mädchen nicht weglaufen, dachte
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