Die Seelenjägerin
einen schlichten Kreis. Das Rad des Schicksals. Die Zeit vergeht, die Welt verändert sich, alles hat seine Zeit.
»Die Macht brennt wie Feuer in mir«, sagte sie ruhig. »In manchen Nächten fürchte ich, sie könnte mich verzehren, wenn ich sie nicht freisetze.«
»Du kennst die Gefahren.«
Sie nickte.
»Du musst das Seelenfeuer beherrschen, sonst wirst du sein Sklave.«
Draußen ging die Sonne unter; ein einzelner Strahl fiel durch das Fenster, ließ ihr rotes Haar kurz aufleuchten wie einen Glorienschein und war verschwunden. Vergängliche Schönheit. Zu wild für einen Engel, zu vollkommen für einen Menschen.
»Du bist ein Kind der Stadt und ihrer Straßen«, sagte er ruhig, »ein Kind des Pöbels mit seinem Gestank, seinen Spannungen, seiner selbstverständlichen Grausamkeit und seiner heißen Tränen, ein Kind der lärmenden Massen, die im Elend leben. Du hast das alles hinter dir gelassen, um die Macht zu erringen und mit ihrer Hilfe zu überleben. Jetzt verfügst du über diese Macht und willst natürlich zurückkehren. Um deine Kräfte zu erproben.«
Sie nickte erneut.
»In dieser Hinsicht konnte ich dir leider nur wenig helfen, fürchte ich.« Er trank die letzten Tropfen und stellte den Becher beiseite. Bei ihm ballten sich die feuchten Teeblätter in der Mitte zu einem Klumpen zusammen, der jeden Deutungsversuch zunichte machte. »Du hättest dir nicht gerade einen alten Einsiedler als Lehrer aussuchen sollen.«
Sie ging auf ihn zu, kniete nieder und umfasste seine Hände mit liebevollem, warmem Griff. Er spürte die Schwielen an den Spitzen ihrer langen, schmalen Finger, Spuren harter Arbeit, zu denen sie sich stolz bekannte. Dabei hätte sie jetzt die glatteste Haut haben können.
»Ich verdanke Euch mein Leben und meine Macht«, flüsterte sie, »und den Wunsch, alles Wissen in mich aufzunehmen, das die Welt zu bieten hat. Was könnte man von einem Lehrer mehr verlangen?«
»Ich habe dich nicht auf die Welt da draußen vorbereitet.«
»Fragt lieber, ob die Welt auf mich vorbereitet ist.«
Er musste unwillkürlich lächeln. »Die Magister werden dich nicht gerade mit offenen Armen empfangen.«
Aus ihren Augen sprühte der Übermut. »Es wäre nicht das erste Mal, dass ich mir Zutritt verschaffe, obwohl ich nicht erwünscht bin. Nicht wahr?«
Er seufzte, umfasste nun seinerseits ihre Hände und drückte sie fest. »Du solltest sie nicht unterschätzen, Kamala. Männer, die in ihrer eigenen Welt und ohne Frauen leben, können sehr ungehalten reagieren, wenn man ihre Kreise stört. Ganz zu schweigen davon, dass du allein durch deine Existenz vieles widerlegst, was sie über die Macht zu wissen glauben. Und stolze Männer lassen sich nicht gern widerlegen.«
Die Diamantaugen glitzerten trotzig. »Soll das eine Empfehlung sein, mich zu verstecken?«
»Du? Gewiss nicht.« Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. »Aber … nimm dich in Acht. Halte dich zurück. Du kannst doch Zurückhaltung üben? Gib dich vorerst als Hexe aus, zumindest so lange, bis du dich zurechtgefunden hast. Lass sie im Dunkeln darüber, dass etwas Neues in die Welt gekommen ist, bis du selbst bestimmen kannst, wie sie es erfahren.« Er hielt inne, und als sie schwieg, fragte er: »Versprichst du mir das?«
»Falls mir gestattet ist, die Geschicke zu lenken«, sagte sie ruhig.
»Sobald sie von dir wissen, werden sie dich Prüfungen unterwerfen. Prüfungen, bei denen nicht vorgesehen ist, dass du sie bestehst. Prüfungen, die dir das Blut aus der Seele ziehen.« Er sah ihr in die Augen und hielt ihren Blick fest. »Sie werden wollen , dass du versagst. Darüber musst du dir klar sein. Allein deine Existenz stellt die Weltordnung, wie sie sie kennen, auf den Kopf. Wenn du einmal als Magister anerkannt bist, werden sie dir zwar nicht mehr nach dem Leben trachten – das verstieße gegen unser Gesetz –, doch sonst ist alles erlaubt. Und wenn sie sich selbst beweisen können, dass du nicht etwa eine der Ihren bist, sondern eine Betrügerin, eine größenwahnsinnige Hexe, die allenfalls ein paar Gauklerkunststücke beherrscht, dann werden sie dich erst recht jagen, einfach nur zum Spaß.«
Die Diamantaugen wurden schmal, und sie sagte ernst: »Mein Lehrer … ich wurde auf der Straße verkauft, bevor ich noch alle Milchzähne verloren hatte, und ich habe überlebt. Wenig später raubte mir die Grüne Pest zuerst meine Mutter und danach mein Heim, und ich habe überlebt. Ich habe Prüfungen von einer Grausamkeit
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