Die Seelenkriegerin: Roman (German Edition)
Riss, jede Spalte, die sie finden können. Jeder Krieger ist bemüht, so schnell wie möglich dem nächsten Platz zu machen, damit sie sich alle in Sicherheit bringen können. Aber es geht nicht schnell genug. Nicht schnell genug! Kamala beobachtet sie, und das Vogelherz hämmert wild in ihrer Brust, denn sie weiß, dass Anukyats Gardisten genau in diesem Augenblick die Treppe im Inneren des Turms herunterkommen, die diese Männer hinaufsteigen wollen. Erst als ihre Warnung sich durch die Reihen verbreitet, sind sie zu den Ausgängen gestürmt. Keine Sekunde zu früh. Aber würde die Zeit ausreichen, um sich zu retten?
Nun hat Rhys den Turm verlassen und drückt sich an eine der langen senkrechten Säulen. Sein blondes Haar flattert im Wind. Er krallt sich an den Felsen, dass seine Knöchel weiß hervortreten, und hat Mühe, zur Seite zu rücken, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Hinter ihm warten die letzten Gardisten darauf, dass der Platz frei wird und sie ebenfalls hinaussteigen können. Die Zeit ist so knapp …
Ohne Kamalas Warnung wäre ihnen freilich gar keine Zeit mehr geblieben. Anukyats Männer hätten sie von oben kommend überrascht und Rhys und seine Verbündeten zwischen sich und den unten wartenden Streitkräften eingeklemmt. Ihr ist es zu verdanken, dass die Männer zumindest eine Chance haben. Wenn es allen gelingt, rechtzeitig nach draußen und aus dem Blickfeld der Gardisten zu gelangen, brauchen sie nur abzuwarten, bis Anukyats Männer an ihnen vorbei nach unten gestiegen sind, um danach ins Innere zurückzukehren und ihr Ziel im obersten Raum anzusteuern, als wären sie nie gestört worden.
Sie wirft einen Blick über die Wildnis, die auf viele Meilen im Umkreis die Zitadelle umgibt, und sieht etwas kommen.
Ein Haufen schwarzer Flecken zeichnet sich am Horizont ab. Zunächst sind sie noch in weiter Ferne, doch sie nähern sich rasch, in einer Formation wie ein Vogelschwarm. Ihr bleibt vor Angst fast das Herz stehen, als sie begreift, was das sein muss. Nein! , denkt sie. Keine Seelenfresser! Nicht jetzt!
Es sind so viele! Mehr, als sie zählen kann. Die schwarz schillernden Flügel saugen das Sonnenlicht förmlich ein. Schon spürte sie im Geist die erste Berührung ihrer Macht. Sie stößt einen Schrei aus, um Rhys und seine Männer auf die Bedrohung aufmerksam zu machen. Gewiss, die Gardisten im Turm könnten daraufhin an die Fenster kommen, um nachzusehen, was es mit dem Lärm auf sich hat, aber das ist nicht zu ändern. Die Aufmerksamkeit von Rhys’ Männern ist nur auf die Fassade gerichtet, an der sie hängen, und falls sie sie nicht warnt, werden sie erst aufschauen und die Gefahr erkennen, wenn es zu spät ist.
Binnen eines Lidschlags sind die Seelenfresser über ihr. Ihre Schwingen erzeugen heftige Luftwirbel, die Männer werden durchgeschüttelt und sind in Gefahr, den Halt zu verlieren. Die zerstörerische Macht der Bestien beginnt ihnen das Bewusstsein zu vernebeln und macht es ihnen immer schwerer, klar zu denken. Einer von Rhys’ Männern verliert den Halt. Seine Finger gleiten aus den Spalten, die Beine knicken unter ihm ein, er stürzt ab. Ein zweiter folgt ihm. Nicht, weil sie keine Kraft mehr hätten, um sich festzukrallen, sondern weil sie den Willen dazu verlieren. Die grausige Macht der Seelenfresser zerfrisst ihren Selbsterhaltungstrieb, und der Wille reicht nicht einmal mehr aus, um in Panik zu geraten, während ihnen der felsige Grund von unten entgegenrast. Sie fallen ohne einen Laut und sind im Geiste bereits besiegt.
Kamala muss untätig zusehen, wie sie zerschellen, und verflucht die eigene Hilflosigkeit. Sie hätte wissen müssen, dass die Seelenfresser unterwegs sind! Sie hätte es auch gewusst, wenn sie Anukyats Botschaft abgefangen hätte, anstatt beim Turm zu bleiben und über die Männer zu wachen. Sie ist schuld an ihrem Tod. Ihre Fehlentscheidung hat das Unheil herbeigeführt.
Ihr gequälter Aufschrei gellt genau in dem Moment über die Landschaft, als Rhys sich nicht mehr halten kann und ebenfalls zu fallen droht …
Kamala schreckte hoch und blinzelte in die Dunkelheit, bis ihre Augen sich wieder an die wirkliche Welt angepasst hatten. Die alte Ruine, die sie sich als Notquartier eingerichtet hatte, ragte schwarz in den wässrig grauen Himmel; in der Ferne kündigten die Insekten mit rastlosem Summen die Dämmerung an. Der Morgen nahte und mit ihm ein neuer, turbulenter Tag … und neue Erinnerungen.
Ihr Götter, wie sehr sie die
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