Die Seelenquelle
verschwunden war. Sie eilte weiter. Die Wolken am Himmel hingen immer tiefer; der brummelnde, polternde Donner wurde immer lauter und aufdringlicher. Der auffrischende Wind ließ Staubteufel durch die Salbeisträucher und Mesquitebäume fortwirbeln.
Als Cassandra den Sockel des Sandsteinhaufens umrundete, sah sie, dass er sich zu einer der vielen Zuleitungsrinnen des größeren Systems hin öffnete, das die Einheimischen Secret Canyon – Geheimer Canyon – nannten. Sie glaubte, eine Gestalt zu erspähen, die in einiger Entfernung vor ihr durch die Schatten der Schlucht huschte. Sie rief erneut, erhielt jedoch keine Antwort; daraufhin erhöhte sie weiter ihr Tempo und drang tiefer in die gewaltige Felsspalte ein.
Ihr Yavapai-Kollege war auf eine höchst charakteristische Weise ein Stereotyp des roten Mannes: arbeitsscheu, wortkarg bis hin zur Einsilbigkeit, anmaßend, verstohlen und zu merkwürdigen Launen geneigt. Gewöhnlich trug er verschossene Jeans, deren Aufschläge er oben in seine abgewetzten Cowboystiefel stopfte. Das glatte schwarze Haar hatte er sich zu einer einzigen Flechte nach hinten gebürstet, die das Rückenteil seines sonnengebleichten blauen Hemds hinabfiel. Das Haarende hatte er mit einem Lederriemen zusammengebunden, der mit einem Stück roten Lappen oder einer Wachtelfeder geschmückt war. Sowohl in seiner Kleidung als auch in seinem Verhalten präsentierte er ein so offensichtlich klischeehaftes Bild, dass Cass zu der Auffassung gekommen war, es sei mit Absicht einstudiert worden, und Freitag arbeite sehr hart daran, es aufrechtzuerhalten. Niemand konnte zufälligerweise so viele dieser Eigenschaften aus Groschenromanen miteinander kombiniert haben.
Freitag, schlussfolgerte sie, wollte mit voller Absicht als Inbegriff des amerikanischen Ureinwohners der Volksromantik gesehen werden. Er lebte dieses Klischee sogar bis zu dem Punkt, dass er an den Wochenenden draußen vor der Walgreens-Filiale in der Main Street stand – mit zwei Adlerfedern im Haar und gekleidet in ein hirschledernes Gewand mit Fransen sowie in perlenbesetzten Mokassins – und dort für Touristen posierte, die ihn gegen ein Trinkgeld fotografierten: Sedonas ureigener indianischer Drugstore. Alles, was ihm fehlte, war eine Handvoll Zigarren.
Was den Grund für dieses Verhalten anbelangte, so hatte sie bis jetzt keine Ahnung. Warum sollte man eine Rolle spielen, die so offenkundig lächerlich und unter seiner Würde war? Warum unterwarf man sich einem erniedrigenden Klischee, das einer rückständigen, weniger aufgeklärten Zeit angehörte? War es Masochismus oder irgendeine Art von ausgeklügeltem Witz? Cass konnte auch nicht ansatzweise erraten, was der Grund war.
»Freitag!«, schrie sie und bewegte sich immer noch vorwärts. »Komm raus! Ich weiß, dass du hier drinnen bist.« Sie hielt inne und fügte dann hinzu: »Du bist nicht in Schwierigkeiten. Ich möchte nur mit dir sprechen.«
Die Felswände aus sich wellendem Gestein, das aus Schichten sich abwechselnder Farbbänder bestand, erhoben sich senkrecht aus dem Boden der Rinne, die bei näherer Betrachtung unnatürlich gerade erschien: eine seltsame Eigenschaft, die Cassandra zwar bemerkte, jedoch einer optischen Täuschung zuschrieb, die durch die unklaren Lichtverhältnisse und die merkwürdig geformten Steinwände hervorgerufen wurde. Ein plötzlicher Windstoß fegte lockere Kieselsteine von weiter oben herab, und mit ihnen kamen die ersten Regentropfen.
»Freitag!«
Der Klang ihrer Stimme schwirrte entlang der Sandsteinmauern, doch es kam keine Antwort aus den schwärzer werdenden Schatten vor ihr. Der Himmel wurde finster, er verdunkelte sich wie ein Bluterguss; und die niedrig hängenden Wolken bewegten sich heftig. Die Luft prickelte vor aufgestauter Energie; sie fühlte sich an, als würde sie unter Spannung stehen und gleich ein Blitz einschlagen.
Cassandra raste los. Eine Hand hielt sie dabei flach über ihren Kopf, um sich vor den herabstürzenden Kieselsteinen zu schützen. Der Wind umtoste sie mit einem gewaltigen Lärm und schickte ein Regentuch vor sich her, das sich über die ganze Rinne legte und alles auf seinem Weg durchnässte.
Cassandra war gefangen. Der Wind, der vom Canyon eingesogen wurde, brandete über sie hinweg und schleuderte ihr kaltes Wasser in das Gesicht. Geblendet vom Regen, schöpfte sie sich das Wasser von den Augen und stürzte schutzsuchend auf die überhängenden Felsvorsprünge zu, welche spärliche Deckung sie auch
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